Ratebild, (c) Andrea Kamphuis

Als ich diese winzigen Objekte 2019 zum ersten Mal mit der Makrolupe und dem USB-Mikroskop fotografiert habe, musste ich an jene schrecklich teuren Urnen aus gehämmertem Messing oder Kupfer denken, die man manchmal in den Schaufenstern von Bestattungsunternehmen sieht. Im nächsten Bild drängt sich die Assoziation vielleicht noch stärker auf:

kupferfarbenes, urnenartiges Objekt mit Deckel, (c) Andrea Kamphuis

Der metallische Glanz, die Struktur der Oberfläche, der Deckel ... Nur die weißen Krümelchen und die ebenfalls weiße Milbe ganz links stören das Bild.

Hier noch einmal mehrere der Bronze-Urnen von oben:

mehrere der "Kupfer-Urnen" von oben, (c) Andrea KamphuisBei etwas geringerer Vergrößerung wird allmählich klar, womit wir es zu tun haben:

Gelege eines Insekts, (c) Andrea Kamphuis

Es ist das Gelege eines Insekts an einer Holunderblütendolde:

Holunderblütendolde von unten, mit Gelege am Stiel, (c) Andrea Kamphuis

Je nach Lichtverhältnissen waren die Eier mal intransparent wie in den ersten Fotos, mal aber auch durchscheinend. Dann konnte man erahnen, dass sich im Inneren sechsbeinige Wesen entwickelten. Bei diesem Exemplar fühle ich mich stark an die Facehugger aus "Alien" erinnert:

verschwommenes, farbverstärktes Foto eines Eies mit einer Insektenlarve im Inneren, (c) Andrea Kamphuis

Ich entsorgte damals das Gelege und kümmerte mich wieder um die Herstellung des Holunderblütensirups. Als ich aber diese Woche die folgende Versammlung auf einem welken Kürbisblatt auf dem Balkon beobachtete, fielen mir die alten Aufnahmen wieder ein:

viele frisch geschlüpfte, schwarz-gelb gestreifte Wanzennymphen, (c) Andrea Kamphuis

Das sind frisch geschlüpfte Nymphen der Marmorierten Baumwanze (Halyomorpha halys), einer invasiven Art aus der etwa 5000 Spezies umfassenden Familie der Baumwanzen oder Pentatomidae, die vom Klimawandel profitiert. Über Nacht hatten sich die Winzlinge umverteilt, und so konnte ich einige der leeren Eier fotografieren, aus denen sie geschlüft waren:

weiße Eier und orange-schwarz gemusterte Wanzennymphen, (c) Andrea Kamphuis

Die Eier dieser Baumwanzen-Art sind weiß. Die bronzefarbenen Eier vom Holunder gehören wahrscheinlich zur Grauen Gartenwanze (Rhaphigaster nebulosa). Statt der Asche eines Verstorbenen enthalten diese Urnen oder Tönnchen also Wanzen-Embryonen. Die Wand der Gefäße heißt Chorion, der Deckel Operculum. Beides besteht aus einem Chitin-ähnlichen Material, das aus Polysacchariden und Proteinen zusammengesetzt ist und in den Eierstöcken eines Wanzen-Weibchens in Form gebracht wurde - und zwar vor der Befruchtung der Eier im Inneren. Die Struktur des Chorions, die bei der Grauen Gartenwanze so stark an gehämmertes Metallblech erinnert, ist also durch die Gestalt und Anordnung der Follikelzellen vorgegeben, die die Eierstöcke der Wanze auskleiden und die Chitin-ähnliche Substanz abscheiden!

Die Spermien werden nach der Paarung von winzigen Gebilden ins Innere transportiert, die rings um die Naht zwischen Tönnchen und Deckel angeordnet sind und im Grunde nur unter dem Elektronenmikroskop richtig betrachtet werden können. Auf Englisch heißen sie aero-micropylar processes. Sie sind porös, und durch ihre Hohlräume gelangen zum einen die männlichen Keimzellen hinein. Zum anderen dienen sie wohl dem Gasaustausch, also der Versorgung der Wanzen-Embryonen mit Sauerstoff und der Entsorgung von Kohlendioxid. Das Weibchen setzt stets eine ganze Menge von Eiern auf einem Blatt oder an einer anderen genehmen Oberfläche ab - je nach Wanzenart flächig und dicht an dicht, sodass ein Bienenwaben-Muster entsteht, oder in Reihen nebeneinander.

Aber wie schaffen es die Wanzenlarven, sich am Tag X aus der schützenden Urne zu befreien? Das Material der äußeren Eihülle ist ja wirklich hart, und sie sind zudem noch von einer zweiten, inneren Hülle umgeben, einer zähen Membran, wie wir sie auch aus Hühnereiern kennen. Nun, sie setzen einen Dosenöffner ein! Im vorigen Bild sah man dieses Werkzeug schon, denn die Larven lassen es nach einmaligem Gebrauch an der Eihülle zurück. Es bildet sich etwa zur selben Zeit wie ihre Augen am Kopf, hat T-Form und besteht aus extrem festem Chitin. Der Mittelteil läuft sehr spitz zu und ist in der Lage, die Membran zu durchstoßen und den Deckel an der Sollbruchstelle - der ringförmigen Naht - vom Tönnchen zu trennen. Hier noch einmal drei der Gebilde, die als ruptor ovis bezeichnet werden, also "Ei-Sprenger":

3 weiße Eier mit dunklen, T-förmigen Objekten an der Öffnung, (c) Andrea Kamphuis

Diese Werkzeuge wurden bereits vor über 100 Jahren in der Fachliteratur genau beschrieben und gezeichnet. Die folgende Darstellung stammt aus einem Aufsatz, den Otto Heidemann 1911 veröffentlicht hat:  

Hier zeigt er, wie der ruptor ovis auf dem Kopf der jungen, noch nicht geschlüpften Wanzenlarve entseht: 

Metallisch glänzende Kapseln mit schicken Verzierungen, die von den Hautzellen in den Eierstöcken geformt werden, und Dosenöffner, die auf der Stirn wachsen und nach Gebrauch abfallen: Je genauer man hinsieht, desto faszinierender sind die fremdartigen Lebensformen, von denen wir überall umgeben sind.

 

Literatur:

Heidemann, O. (1911) Some remarks on the eggs of North American species of Hemiptera-Heteroptera. Proceedings of the Entomological Society of Washington, 13, 128–140. (PDF)

Matesco, V. C., et al. (2009) Morphological features of the eggs of Pentatomidae (Hemiptera: Heteroptera). Zootaxa, 1984(1), 1-30. (PDF)