Die Gehäuse der allermeisten Land- und Meeresschnecken sind rechtsgewunden: Folgt man der Spirale vom Pol nach außen, so biegt sie sich rechts herum. Bei einzelnen Familien oder Arten herrschen allerdings linksgewundene Gehäuse vor, und bei vielen rechtsgewundenen Arten treten ganz vereinzelt spiegelverkehrte Exemplare auf, die sogenannten Schneckenkönige.
Aufgrund ihrer Seltenheit waren linksgewundene Schneckenhäuser in den Naturalienkabinetten, die während der Renaissance in Mode kamen und oftmals den Grundstock späterer Museumssammlungen darstellten, beliebte Exponate. So mancher Fürst wies seine Untergebenen an, systematisch nach Schneckenkönigen Ausschau zu halten, oder kaufte exotische Prachtexemplare ein.
Dieser von Anna Lister oder ihrer Schwester Susanna Lister angefertigte Kupferstich aus der 1770 erschienenen Historia Conchyliorum des englischen Naturforschers Martin Lister zeigt eine der wenigen Arten mit grundsätzlich linksgängigem Gehäuse: Busycon contrarium, deren "verkehrte" Windung sogar im Artepithet (dem zweiten Bestandteil des wissenschaftlichen Artnamens, hinter der Gattungsbezeichnung) zur Sprache kommt.
Im Unterschied zu den interessierten Sammlern und Naturforschern war vielen der Kupferstecher, die den Auftrag erhielten, die Sammlungen zu dokumentieren, nicht klar, dass es kaum linksgewundene Schnecken gibt – und so vergaßen sie oftmals, die Vorlagen, die sie auf ihre Kupferplatten übertrugen, zu spiegeln, um den Drucken später wieder die richtige Orientierung zugeben.
lechts und rinks kann man nicht velwechsern
In etlichen Stichen tauchen daher falsche Schneckenkönige auf, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Auf dieser Tafel aus der Dokumentation der Sammlung des niederländischen Stoffhändlers Levin Vincent (1658–1727), Wondertooneel der Nature (1706), sind die beiden einzigen Schneckenhäuser, bei denen der Drehsinn deutlich zu erkennen ist – das genau in der Mitte und das ähnliche am äußersten linken Rand – linksgewunden, ohne dass auf ihre Besonderheit hingewiesen wird. Daher steht zu vermuten, dass der Kupferstecher gepfuscht hat.
Noch deutlicher wird das Phänomen auf der Titelseite von Filippo Buonannis Werk Ricreatione dell'occhio e della mente von 1681: Sämtliche Schneckenhäuser in dieser verspielten "Statue", die an die grauenhaften Souvenirs aus so manchem Seebad erinnert, sind Pseudo-Schneckenkönige.
Auch in diesem Ausschnitt aus einem Porträt des deutschstämmigen Amsterdamer Apothekers und Sammlers Albertus Seba, das Jakob Houbraken nach einem Bild von J. M. Quinkhard angefertigt hat, ist die einzige Schnecke auf dem Tisch des Kabinetts, deren Windungsrichtung auf Anhieb zu erkennen ist, links herum gewunden. Man erkennt dies am leichtesten anhand der Öffnung: Stellt man sich das Schneckenhaus mit der Spitze nach oben stehend vor, so deutet eine links der Mitte liegende Mündung auf eine Linkswindung hin.
Dass hier kein echter Schneckenkönig gemeint ist, wie man aufgrund der betonenden Geste vielleicht meinen könnte, zeigen die Bilder von Sebas Sammlung: Auch auf der folgenden Tafel (LXXI) – und mehreren anderen aus seinem 1734 bis 1765 veröffentlichten Thesaurus – sind sämliche Schneckenhäuser linksgängig.
Hinzu kommt, dass man damals noch nichts über die wahren Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Schnecken, Perlbooten und Ammoniten wusste, sondern rein phänomenologisch alle Geschöpfe mit spiraligem oder schraubigem Gehäuse oder gar alle Meerestiere zusammengefasst hat. So liegen im Wondertooneel-Stich oben Perlboot- und Schneckengehäuse einträchtig in einer Schachtel beisammen.
Noch der Taxonom Carl von Linné (1707–1778) rechnete die Schnecken den "Würmern" zu, einer ziemlich eklektischen Gruppe von Lebewesen, die sich unter anderem durch folgende Merkmale auszeichnen sollten: "halten weißlichen Saft statt des Blutes; nackend; dehnen sich; im Feuchten; sind stumm".
werch ein illtum!
Nicht, dass wir heute viel klüger wären. Taxonomen werden mit den Augen rollen, wenn sie die folgende Seite aus dem 1998 bei rororo erschienenen Buch Symmetrie. Eine neue Art, die Welt zu sehen von István und Magdolna Hargittai betrachten:
Ein klassischer Doppelfehler: Schnecken werden hier als "Muscheln", Ammoniten dafür als "fossile Schnecken" bezeichnet. For the record: Alle gehören zum Stamm der Weichtiere (Mollusca), aber die Muscheln, die Schnecken und die Kopffüßer, zu denen die ausgestorbenen Ammoniten zählen, sind drei unterschiedliche Klassen – also nur recht weitläufig verwandt.
Und auch falsche Schneckenkönige gehören nicht der Vergangenheit an: Zwar sticht man heute nicht mehr in Kupfer, aber dank Photoshop und anderen Tools ist es Grafikern ein Leichtes, eine Fotografie zu spiegeln, um einen "harmonischeren" Bildaufbau zu erzielen.
In diesem Bild aus dem Buch Der geheime Code. Die rätselhafte Formel, die Kunst, Natur und Wissenschaft bestimmt von Priya Hemenway (Evergreen, 2008) ist das rechte der beiden freigestellten und anschließend mit künstlichen Schatten versehen Schneckenhäuser zum Pseudo-Schneckenkönig mutiert – bei Weitem nicht der einzige Fehler in diesem hübschen, aber inhaltlich enttäuschenden Buch.
Den Vogel hat wohl die Firma WMF abgeschossen, die in einer Werbeanzeige für ihr Schneckenbesteck gleich Dutzende von Weinbergschnecken (mit Zitrone und Petersilie!) versehentlich in den Hochadel erhoben hat. Die Anzeige ist in einem Artikel von Mark Benecke abgebildet (Club Conchylia 26/2, S. 11–15, 1994), dem ich auch die oben zitierte Linné'sche Würmerdefinition entnommen habe.
(Die Zwischenüberschriften sind Zitate aus dem Gedicht "lichtung" des 2000 verstorbenen Dichters Ernst Jandl.)