Gefäßpflanzen sind – wie im Beitrag über ihre Gestalt ausgeführt – modulare Lebensformen, die gegen viele Schäden, die ihr stationäres Dasein mit sich bringt, relativ unempfindlich sind: Entweder sie reparieren die Schäden, oder sie ersetzen die ausgefallenen Module durch neue.
Neue Blatt- oder Blütenanlagen (Primordien) werden in einem Gewebering knapp unterhalb der Spross-Scheitelpunkte angelegt, der besonders teilungsfreudige Stammzellen enthält: dem Apikalmeristem. Die Zellteilung und die Bildung neuer Knospen werden dabei von Pflanzenhormonen wie Auxin oder den Cytokininen angeregt bzw. gehemmt, die unter anderem in den bereits bestehenden Knospen ausgeschüttet werden.
Nach den griechischen Wörtern für Blatt (phyllo) und Ordnung (taxis) wird die Anordnung der Blätter und anderer Organe an den Sprossachsen als Phyllotaxis bezeichnet. Die wichtigsten Phyllotaxis-Typen sind
- die distische oder zweizeilige Blattstellung, bei der die neue Knospe jeweils genau gegenüber ihrem Vorgänger entsteht (180°),
- Wirtel oder Quirle wie beim Waldmeister oder beim Schachtelhalm (360/n°, wobei n, die Anzahl der gleichzeitig entstehenden Knospen, mindestens 3 ist),
- die gegenständige Anordnung, bei der jeweils zwei Knospen gleichzeitig entstehen; ein häufiger Sonderfall ist die z. B. von Brennnesseln oder Eschen vertraute Kreuzgegenständigkeit, bei der jedes neue Paar quer zu seinem Vorgänger steht (90°),
- sowie die besonders häufige schraubige Anordnung, um die es im Folgenden vor allem gehen wird.
Eine schraubige Phyllotaxis ist besonders leicht zu entdecken, wenn der Spross während seines Wachstums eher in die Breite denn in die Länge geht. Dann entstehen Rosetten, in denen wir den Winkel zwischen zwei aufeinander folgenden Knospen – den sog. Divergenzwinkel – recht genau bestimmen können. Mit verblüffender Genauigkeit halten viele Pflanzen dabei den Goldenen Winkel von knapp 137,5° ein. Erheblich leichter als die sog. Grundspirale, die die Knospen in der Reihenfolge ihrer Entstehung miteinander verbindet, erkennt man aber zwei gegenläufige Familien von Spiralen aus besonders dicht benachbarten Blättern oder Blüten (Parastichen).
Beispiele für schraubige Phyllotaxis
... finden sich fast überall, wenn man die Augen offen hält – in der eigenen Küche, auf dem Hinterhof, bei Spaziergängen im Wald oder in Mauerritzen: Breitwegerich, Dickblattgewächse, Bromelien, Koniferenzapfen, Ananas, Sonnenblumen, andere Korbblütler, Rosen und Artischocken sind spiralig organisiert. Salatköpfe sind etwas weniger regelmäßig, aber am nackten Strunk sind die Schraubenlinien gut zu erkennen. Besonders schön ist der Effekt beim Romanesco, einer "fraktalen" Blumenkohl-Zuchtform mit Spiralen in Spiralen in Spiralen.
Rätselhafte Fibonacci-Spiralen
Wer sich die Mühe macht, einige der Spiralenfamilien im und gegen den Uhrzeigersinn auszuzählen, kommt zu einem verblüffenden Ergebnis: Zumeist handelt es sich um zwei aufeinander folgende Zahlen der berühmten Fibonacci-Folge, bei der die Summe der letzten beiden Zahlen jeweils die nächste ergibt (fn = fn-1 + fn-2; 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55…). Bei vielen Kieferzapfen sind es 5 und 8, bei Ananas 8 und 13, bei Gänseblümchen häufig 13 und 21; Sonnenblumen und Disteln kommen auf 21 und 34, 34 und 55 oder sogar 55 und 89.
Im Falle der nebenstehenden Sonnenblume sind es zum Beispiel 34 und 55. Bei manchen Pflanzen treten statt der Fibonacci-Zahlen Lucas-Zahlen auf (Folge 1, 3, 4, 7, 11, 18 …).
Im Jahr 1837 fiel dem Kristallografen Auguste Bravais und seinem Bruder auf, dass zwischen zwei aufeinander folgenden Primordien auf der Grundspirale oft nahezu der Goldene Winkel von knapp 137,5° eingehalten wird, der unter anderem in der Kunst eine große Rolle spielt. Er ist die Winkel-Entsprechung zum bekannteren Goldenen Schnitt, der eine Strecke auf eine eine als besonders harmonisch empfundene und unendlich wiederholbare Weise unterteilt. Warum ist das so? Sind Pflanzen etwa Ästheten?
Der Goldene Schnitt teilt eine Strecke der Länge 1 bei (√5 – 1)/2 = ca. 0,618034 und wird mit dem griechischen Buchstaben Phi (Φ) bezeichnet. Der Goldene Winkel ist entsprechend Ψ = 360·(1 – Φ) ≈ 137,5°.
Φ ist die "irrationalste" aller Zahlen: Sie ist schwerer als jede andere durch Brüche aus rationalen Zahlen näherungsweise zu erreichen. Aber die besten Näherungen, die es gibt, sind zwei aufeinander folgende, möglichst große Zahlen aus der Fibonacci-Folge. Man probiere es aus: 5/8 = 0,625, 13/21 = 0,619..., 34/55 = 0,61818...usw.; man kommt der Sache immer näher, erreicht sie aber nie.
Exkurs: Der Goldene Schnitt und der Goldene Winkel in der menschlichen Geschichte – Fakten und Mythen
Verlässliche Informationen über Φ finden sich z. B. in Mario Livios Buch „The Golden Ratio. The story of phi, the world’s most astonishing number“ (Broadway Books, 2002). Andere Bücher und viele Internetseiten verbreiten hingegen platten und mathematisch naiven Mystizismus. Ein gutes Gegengift ist eine Kolumne des Mathematikers Keith Devlin: "Good stories, pity they're not true“!
Dan Browns Mega-Bestseller "The Da Vinci Code" (2003, deutsch: "Sakrileg") hat breite, mathematisch kaum vorgebildete Kreise auf das Phänomen des Goldenen Schnitts aufmerksam gemacht. Es ist ja auch tatsächlich faszinierend, in wie vielen Zusammenhängen diese Proportion in der Natur und in der Kunst anzutreffen ist. Da bereits die alten Griechen von der besonderen Harmonie dieses Verhältnisses überzeugt waren, ist es kein Wunder, dass sie es in vielen ihrer Skulpturen und Bauten einzuhalten versuchten.
Andere angebliche Belege sind hingegen schlicht nicht haltbar. Dass Da Vinci in seiner Proportionsstudie "Der vitruvianische Mensch" und Boticelli in seinem Gemälde "Die Geburt der Venus" bewusst den Goldenen Schnitt eingesetzt hätten, ist weder belegt noch ausgeschlossen. Dasselbe gilt für die ägyptischen Pyramiden und für babylonische Tontäfelchen. Devlin berichtet von einer kleinen Umfrage, die er unter Architekten durchgeführt hat: Alle kannten den Goldenen Schnitt und alle glaubten, dass andere Architekten ihn in ihren Entwürfen berücksichtigen – die Befragten selbst verneinten dies allerdings allesamt!
Ähnliches gilt für die Musik: Gregorianische Gesänge, Mozart, Bartok – in vielen Kompositionen soll sich die "heilige Proportion" verbergen; nur nach Belegen darf man die Anhänger dieser Idee nicht fragen.
Warum ausgerechnet 137,5°?
Alle frühen Phyllotaxis-Modelle waren rein deskriptiv und erweckten fast den Anschein, als würden die Pflanzen entweder in einer Datenbank nachschlagen oder irgendwie berechnen, welcher Divergenzwinkel sich für ihre Art "gehört".
Ab 1979 wurde auf der Grundlage numerischer Versuche eine Hypothese diskutiert, die den Weg zu einer kausalen Erklärung zu weisen schien: Die "Packungsdichte" der Primordien ist am höchsten, wenn zwischen zweien jeweils ein Goldener Winkel eingehalten wird. Man vergegenwärtigt sich dies am leichtesten über das Gegenteil: Wenn zwei Knospen am Spross jeweils exakt übereinander liegen, ihr Divergenzwinkel also gewissermaßen 360° beträgt, wird sehr viel Platz verschwendet. Blätter beschatten sich bei hohem Sonnenstand gegenseitig, und Fruchtstände können nur wenige Früchte oder Samen tragen. Je "irrationaler" nun der Divergenzwinkel zwischen zwei Primordien, desto seltener stehen die Elemente exakt übereinander und desto besser wird der verfügbare Platz genutzt.
Bei rationalen Divergenzwinkeln wird viel Platz verschwendet.
Je näher der Winkel an Ψ = 360·Φ liegt, desto effizienter.
Doch selbst wenn der Goldene Winkel als Divergenzwinkel tatsächlich zu einer besonders sparsamen Ressourcennutzung führt, spricht nichts dafür, dass die Pflanzen selbst oder irgendeine "göttliche Vernunft" aus dem Nichts heraus eine solche planmäßig-effiziente Anordnung bewirken. Teleologische Annahmen sind mit dem bewährten Naturalismus der modernen Biologie nicht vereinbar. Wie kommt die optimale Anordnung also zustande?
Mit Magnetfeldern auf die richtigen Spur gekommen
Zunächst einmal darf man den Begriff "optimal" in Frage stellen: Jüngere, physikalisch und physiologisch präzisere Simulationen haben ergeben, dass Blätter (die ja nicht unbedingt direktes Starklicht benötigen oder auch nur vertragen, sondern überwiegend mit Streulicht auskommen) sich bei allen möglichen Divergenzwinkeln außer 360° gegenseitig kaum an der Photosynthese hindern. Insofern sind Brennesseln und all die anderen Pflanzen mit einer distichen oder kreuzgegenständigen Blattstellung alles andere als "minderwertig" oder suboptimal.
Im Jahr 1992 veröffentlichten die französischen Mathematiker Stéphane Douady und Yves Couder die Ergebnisse eines physikalischen Experiments, mit dem sie zeigten, dass der Goldene Winkel schlicht die Folge physikalischer Abstoßungskräfte sein kann: Sie bedeckten den flachen Boden einer runden Schale mit einem zähen Ölfilm und legten ein senkrechtes Magnetfeld an, das am Schalenrand stärker war als in der Mitte. In diese Mitte tropfte mit einer genau einstellbaren Frequenz, die der Knospenbildungsrate der Sprossspitze entspricht, eine magnetische Flüssigkeit. Durch den Gradienten des Magnetfelds wanderten die Tropfen allmählich zum Rand; darüber hinaus stießen sie sich gegenseitig ab.
Ist die die Freisetzungsrate im Vergleich zur Wandergeschwindigkeit der Tropfen gering, so wird jeder neue Tropfen nur von seinem unmittelbaren Vorgänger abgestoßen. Es stellt sich folglich ein Divergenzwinkel von 180° ein, wie bei der distichen Phyllotaxis. Bei einer höheren Tropffrequenz bzw. einer geringeren Wandergeschwindigkeit stoßen mindestens zwei Vorgänger jeden neuen Tropfen ab, und dann stellt sich nach und nach allmählich ein Divergenzwinkel von etwa 137,5° ein.
(Das Bild rechts zeigt die Grundspirale der ersten 9 Tropfen. In den Filmen der Autoren erkennt man, dass der zweite aufgrund der gegenseitigen Abstoßung exakt vom ersten Tropfen fortstrebt. Ob der dritte Tropfen sich links oder rechts ihrer gedachten Verbindunglinie ansiedelt, hängt vom Zufall bzw. von feinsten Ungleichmäßigkeiten im Versuchsaufbau ab.)
Der Mechanismus blieb offen
Bei der Interpretation solcher physikalischer Analogmodelle ist große Vorsicht geboten, wie die Autoren selbst betonten. In der Phyllotaxis-Literatur standen sich seit langem zwei Modelle gegenüber. Entweder folgen die Pflanzen einer strikten inneren Uhr und legen in ganz regelmäßigen Intervallen (dem sog. Plastochron) neue Knospen an, die dann an jener Stelle des Meristemrings entstehen, die am schwächsten von den Vorgängerknospen beeinflusst ist, an der also die von diesen ausgehenden hemmenden Kräfte minimal sind. Oder das Intervall ist nicht starr, sondern die nächste Knospe entsteht, sobald an irgendeiner Stelle auf dem Meristemring die Kräfte einen Grenzwert unterschreiten, also die nächsten Nachbarknospen durch das Wachstum der Sprossachse weit genug vom Ring weggewandert sind oder aus anderen Gründen nicht mehr so stark hemmend wirken. Leider führen beide denkbaren Mechanismen zu ganz ähnlichen Resultaten, und der Umstand, dass Douady und Couder aus technischen Gründen gezwungen waren, mit einem festen Tröpfchen-Intervall zu arbeiten, ist kein Grund anzunehmen, dass auch Pflanzen ein festes Plastochron haben.
Zudem darf man von der magnetischen Natur der Kräfte in diesen Experimenten nicht einfach auf ein ähnliches Wesen der in den Pflanzen wirkenden Kräfte schließen. Hier geht es nicht um eine Abstoßung im eigentlichen Sinne, denn eine einmal angelegte Knospe lässt sich durch die Einwirkung ihrer Nachbarn um kein Iota nach links oder rechts verschieben. Vielmehr scheinen die Primordien eine Substanz zu produzieren, die in das benachbarte Gewebe hineindiffundiert (oder aktiv von Zelle zu Zelle transportiert wird), dort die Anlage weiterer Primordien hemmt und mit einer bestimmten Halbwertzeit zerfällt oder abgebaut wird. Solche chemischen Reaktions-Diffusions-Systeme haben Alan Turing (1952) und Hans Meinhardt (1980er-Jahre) charakterisiert und analysiert. Paul Green wies allerdings 1992 darauf ihn, dass mechanische Kräfte ganz ähnliche Auswirkungen haben können: Durch die Zellteilungen, unterschiedlich dicke Zellwandregionen und die Krümmung des Vegetationskegels treten im Gewebe Spannungen auf, auf die das Meristem womöglich reagiert.
Keine Magie, sondern eine logische Folge
Auch wenn der exakte Mechanismus bzw. Chemismus, der die Anordnung der Knospen am Spross bewirkt, noch nicht endgültig aufgeklärt ist, lässt sich festhalten, dass die Pflanzen weder Ästheten noch Rechenmeister sein müssen und wohl auch keine Magie im Spiel ist. Vielmehr dürfte eine Kombination mehrerer natürlicher Faktoren dazu führen, dass wir uns an einer Vielfalt pflanzlicher Spiralmuster erfreuen können:
- physikalische Kräfte (mechanischer Druck oder Zug, Spannungen im Gewebe),
- die Biochemie und Physiologie der Pflanzen (Pflanzenhormone, die die Primordienbildung und das Wachstum fördern oder hemmen),
- Genetik (arttypisches Plastochron, Form des Vegetationskegel usw.),
- Umweltfaktoren (Temperatur, Nährstoffe, Trittbelastung usw., die das Streckungswachstum des Sprosses beeinflussen),
- Evolution, also die natürliche Auslese von Anordnungen, die z. B. den begrenzten Platz optimal nutzen,
- und manchmal auch eine Auslese durch den Menschen, z. B. bei Zierpflanzen oder dem Romaneso-Blumenkohl.
Do it yourself
Auf der schönen und soliden englischsprachigen Phyllotaxis-Website von Pau Atela und Chris Golé, Mathematik-Professoren am Smith College in Northampton, kann man mit Hilfe eines Java-Applets erproben, wie sich alle möglichen Kombinationen von Divergenzwinkel (X-Achse des links dargestellten Phasenraums) und Wachstumsgeschwindigkeit des Sprosses (Y-Achse des Phasenraums) auf das entstehende Spiralmuster auswirken. Auch Stephen Wolframs Mathematica-Visualisierung, bei der sich unter anderem die Krümmung des Vegetationskegels, der Divergenzwinkel und die Zahl der Primordien einstellen lassen, macht die Auswirkungen dieser Parameter sehr anschaulich. Der benötigte Mathematica-Player ist kostenlos.
Wer lieber bastelt als am Computer sitzt, kann aus einer Papprolle (z. B. einer Posterverpackung oder dem Überrest einer Küchenpapierrolle) und Papierringen mit Grad-Markierungen und angeklebten Papierblättern eine Modellpflanze bauen, an der man die optische Wirkung verschiedener Divergenzwinkel und Wachstumsraten erkunden kann. Wegerichrosetten lassen sich aus unterschiedlich großen Papierblättern mit anhängenden dezenten 137,5°-Markierungen sowie einer Reißzwecke zusammensetzen.