Wie ist der Schlot entstanden, den ich hier mit meinem USB-Mikroskop abgelichtet habe?
Genau genommen hätte dies das "Muster des Monats November" werden müssen; die Aufnahmen habe ich nämlich schon Ende Oktober gemacht. Da war ich eigentlich unterwegs, um die Herbstfärbung und den Laubfall der Bäume zu dokumentieren, aber das passt besser in unsere Baumkolumne. Hier geht es um die verlassenen Gallen der Lindenblattgallmücke (Didymomyia tiliacea). So sah die Oberseite des Lindenblatts aus, als es noch am Baum hing:
Die Makroaufnahme zeigt, dass die Löcher in den Erhebungen senkrecht geriffelt sind - typisch für die verlassenen Außengallen der Lindenblattgallmücken:
An der Blattunterseite sind die Gallen dagegen noch grün, anders als der Rest des Blattes, in dem das Chlorophyll oder Blattgrün schon abgebaut wurde und nun die gelben Carotinoide zum Vorschein kommen. Und sie haben einen kleinen Zipfel, sodass sie an Brüste erinnern. Die Mücke scheint im Frühjahr bei der Eiablage irgendwann über den Blattrand geklettert zu sein; zwei der Gallen - hier rechts im Bild - sind jedenfalls umgekehrt ausgerichtet:
Zu Hause habe ich zwei benachbarte Gallen herausgeschnitten, auf eine Büroklammer gesetzt und ausgeleuchtet. So erkennt man die gefurchte Innenseite der Außengalle noch besser:
Warum nenne ich diese Krater "Außengallen"? Die Larven, die sich aus den Eiern der Gallmücke entwickeln und ihre erste Lebensphase im Inneren der Gallen auf dem Blatt verbringen, sind von einer doppelten Pflanzengewebeschicht umgeben, die die Linde gewissermaßen auf hormonellen Befehl der Gallmücke oder ihrer Eier hergestellt hat. Im Sommer werden die inneren Teile mit den darin lebenden Larven herausgesprengt und fallen zu Boden, wo dann erst im folgenden Frühjahr die nächste Generation von Gallmücken schlüpft. Zurück bleiben die nun nicht mehr benötigten Wucherungen auf den Blättern. Dass der Stoffwechsel der Bäume zum Aufbau und Erhalt der Gallen manipuliert wurde, sieht man aber immer noch - eben an der anhaltenden Grünfärbung der Gallen-"Brüste" und ihrer unmittelbaren Umgebung.
Hier noch eine Nahaufnahme der beiden ausgeschnittenen Gallen von der Seite:
Wie die Entwicklung von Pflanzengallen abläuft, ist übrigens immer noch nicht genau bekannt. Die Steuerungsprozesse rund um Pflanzenhormone, die Regulierung der entsprechenden Gene und so weiter sind unheimlich schwer zu entschlüsseln. Was ist Ursache, was Wirkung? Bringen die Gallmücken selbst geringe Mengen an eigenproduzierten Pflanzenhormonen mit oder veranlassen sie deren Produktion im Blattgewebe mit anderen Substanzen, die die Entwicklungsvorgänge im Blatt manipulieren?
Über welche evolutionären Zwischenschritte hat sich die komplexe Choreografie aus Entwicklungsvorgängen herausgebildet, die zu der enormen Vielfalt an Pflanzengallen führen? Diese Gallen sind ja keine amorphen Gewebsklumpen, sondern regelrechte Organe zum Schutz und zur Versorgung ihrer Bewohner - seien es nun Insekten, Spinnentiere, Pilze, Bakterien oder Viren. Da gibt es noch viel zu erforschen - mit modernsten Analysemethoden und Rechenmodellen.