Wie in unserem Beitrag zum Muster des Monats Januar 2009 geschildert, lassen sich unter günstigen Witterungsbedingungen in winterlichen Laubwäldern ab und zu seltsame Gebilde entdecken: strahlend helle Flaumbüschel – in einem Internetforum als "weiße Mäuse" beschrieben, deren Wahrnehmung der Autor zunächst angeblich auf übermäßigen Alkoholkonsum am Vorabend zurückführte.
Rätselhafte "weiße Mäuse" auf dem Waldboden
Dieses sogenannte Haareis ist genau das, was der Name besagt: Eis, das wie unser Haar am Ansatz wächst und nicht etwa an der Spitze. Die Haareisforscher Gerhart Wagner und Christian Mätzler haben gute Indizien dafür zusammengetragen, dass Pilzmyzel in Holzstrahlen dieses Phänomen verursacht: Etliche Pilze machen sich bevorzugt über die nährstoffreichen Teile von totem Buchenholz her. In den sogenannten Holzstrahlen, die wie Speichen radiär von der Mitte eines Stammes oder Astes bis zum Rand reichen, sind Kohlenhydrate und ein wenig Fett eingelagert, und die Haareis-Fasern entspringen genau da, wo die Holzstrahlen enden, nämlich seitlich am entrindeten Ast. In der folgenden Aufnahme erkennt man sowohl die längliche, durch die Form des Astes vorgegebene Gestalt des Eisbüschels als auch – ansatzweise – eine dunkle Maserung auf dem freiliegenden Stück des verrottenden Holzes. Die Buchenblätter vermitteln einen Eindruck von der Größe dieser im Sonnenlicht bereits angeschmolzenen und zusammengeschrumpften "Maus":
Holzstrahlen habe ich zwar im botanischen Anfängerpraktikum im ersten Studiensemester unter die Lupe genommen, aber das ist mittlerweile fast 25 Jahre her. Und obwohl wir alle von Holz umgeben sind, die warme Ausstrahlung von Holzmöbeln mögen und uns auf die Stabilität dieses wunderbaren Baumaterials verlassen, habe ich der Feinstruktur von Hölzern in letzter Zeit nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt, dass ich die Hypothese von Wagner und Mätzler auf Anhieb richtig einschätzen könnte. Also noch einmal ganz von vorn!
Der Zahn der Zeit
Wenn ein Baum abgestorben ist oder ein Sturm ihm Äste abgerissen hat, setzt bald die Verrottung ein. Viele Pilze haben sich auf das Holz bestimmter Baumarten als Substrat spezialisiert. In und auf Ästen, die Haareis trugen, konnten Mykologen bislang vier Pilze ausmachen: zwei ganzjährige Ständerpilze (Basidiomyceten), nämlich den Goldgelben Zitterling (Tremella mesenterica) und den Warzigen Drüsling (Exidia glandulosa), sowie zwei winteraktive Schlauchpilze (Ascomyceten), nämlich das Warzige Eckenscheibchen (Diatrypella favacea) und eine Art aus der Gattung der Kohlenbeeren (Hypoxylon) – vermutlich die Rötliche oder Buchen-Kohlenbeere (H. fragiforme).
Wie Kohlenbeeren aussehen, zeigt das Bild links. Die kleinen, beerenförmigen Fruchtkörper, die stets seitlich am Ast wachsen, durchstoßen die Rinde und schaffen so neue Einfalltore für weitere Holzzersetzer. Wie Wagner und Mätzler beschreiben und ich anhand meiner Beobachtungen vom 26. 12. 2008 bestätigen kann, trägt auch das Haareis zum Schälen der toten Äste bei: So zart die einzelnen Eisfäden auch sind, in der Masse können sie beim Wachsen die Rinde über eine Länge von mehreren Dezimetern regelrecht aufsprengen oder in großen Placken abheben.
Wie der Recyclingprozess weitergeht, lässt sich rechts am Rand eines älteren Laubbaumstumpfes erkennen: Nicht alle Bestandteile des Holzes zerfallen gleich schnell. Die radiären Streifen, die sich auf der Schnittfläche hell abheben, sowie die senkrecht verlaufenden großen Gefäße – im Querschnitt als dunkle Poren sichtbar – leisten offenbar mehr Widerstand als der Rest. Die großen Gefäße, in denen einst Kapillarkräfte Wasser und gelöste Nährstoffe in die Baumkrone transportiert haben, markieren übrigens die Jahresringe, und ihre deutlich Beschränkung auf eine kurze Wachstumsphase im sogenannten Frühholz deutet darauf hin, dass es sich bei diesem einst mächtigen Baum um eine Eiche gehandelt haben dürfte. Das offenbar etwas weichere Spätholz zwischen diesen Ringen besteht aus sehr engen Gefäßen und sogenannten Tracheiden, die früher ebenfalls Wasser führten und außerdem das Holz festigten. Die hellen Streifen, die die Jahresringe senkrecht kreuzen, sind die Holzstrahlen, die bei Eichen sehr breit ausfallen.
Eine Frage des Blickwinkels
Einen Querschnitt durch einen Laubbaumstamm oder -ast erkennt man anhand dieser Elemente sofort. Die beiden anderen Hauptschnittebenen stehen, wie die folgende Skizze andeutet, senkrecht zum Querschnitt. Der Radialschnitt heißt bei Schreinern und Tischlern auch Spiegelschnitt; der Tangentialschitt wird als Flader- oder Herzschnitt bezeichnet. Welche Schnittrichtung der Fachmann wählt, hängt von ästhetischen und funktionalen Überlegungen ab. So ist das quer geschnittene sogenannte Hirnholz besonders druckstabil, während Schrauben besser halten, wenn ihre Achsen nicht in Richtung der Gefäße und Holzfasern verlaufen, sondern quer dazu.
Radialschnitte heißen auch Spiegelschnitte, weil in ihnen oft größere Bereiche der längs aufgeschnittenen Holzstrahlen zu erkennen sind, deren feine Zellen Licht aus bestimmten Einfallwinkeln stark reflektieren und so inmitten des sonst matten Holzes schimmernd Akzente setzen. Tangentialschnitte schließlich sind für flächige Möbelfassaden beliebt, weil dabei mehrere Jahrsringe flach angeschnitten werden, wodurch eine großflächige, an Flammen erinnernde Maserung entsteht, die Fladerung (spätmittelhochdeutsch "vlader[e]n" = flackern).
Das Holz der entwicklungsgeschichtlich älteren Nadelbäume ist einfacher aufgebaut als das der Laubbäume. Zwar erkennt man auch bei ihnen deutliche Jahresringe, da der Zuwachs vor allem im Frühjahr und Frühsommer erfolgt, aber Gefäße werden in der gesamten Wachstumsperiode eingebaut und sind stets ungefähr gleich groß. Die Holzstrahlen sind nur eine einzige Zellschicht breit und mit dem bloßen Auge nicht zu sehen. Dafür verlaufen bei einigen Nadelhölzern, zum Beispiel Kiefern, in axialer Richtung zahlreiche Harzkanäle, die sich durch die Harztopfen auf den Querschnittflächen frisch gefällter Stämme verraten (Foto rechts).
Armierung, Vorratsspeicher und Verkehrswege
Harztropfen wird man auf einem Laubbaumquerschnitt niemals finden, aber dafür springen die Holzstrahlen ins Auge. Wie erwähnt fallen sie bei Eichen besonders dick aus; sie nehmen bis zu einem Fünftel des Holzkörpers ein. Die sogenannten primären Holzstrahlen, auch Markstrahlen genannt, reichen vom Mark in der Mitte bis zur Rinde. Zwischen Holz und Rinde liegt die Zuwachszone des Baumes: der Cambiummantel. Von dessen embryonalen Zellen, den sogenannten Initialen, schnüren sich nach innen neue Holzzellen und nach außen neue Bastzellen ab. Wenn der Stamm mit den Jahren dicker wird, steigt der Abstand zwischen den radiären Markstrahlen, und sobald er einen Grenzwert überschreitet, legt der Cambiummantel etwa auf halber Strecke zwischen ihnen einen neuen Holzstrahl an. Im Querschnitt durch eine relativ junge Eiche, links, lassen sich die primären und sekundären Holzstrahlen gut ausmachen – vor allem dort, wo das übrige Holz dunkel geworden ist.
Die Holzstrahlen erfüllen drei Funktionen: Erstens stabilisieren sie das Gewebe. Hölzer mit starken Holzstrahlen reißen nicht so leicht wie solche, in denen Strahlen fehlen oder – wie bei der Linde in der Querschnittzeichnung unten – nur eine Zellschicht breit sind. Zweitens dienen die Strahlen als Winterlager: Bevor Laubbäume im Herbst ihre Blätter abwerfen, ziehen sie wertvolle Stoffe wie Kohlenhydrate und Fette aus ihnen ab und speichern sie in den Holzstrahlzellen.
Drittens müssen nicht nur zwischen Wurzel und Krone, sondern auch zwischen der Peripherie und der Mitte des Stammes Stoffe transportiert werden. Ein rein passiver Transport wie in den axial verlaufenden Gefäßen scheidet aus, denn dieser funktioniert nur, weil die Blätter mit ihrer Wasserverdunstung einen starken Sog auf die Kapillaren ausüben. Ein aktiver Transport kann nur in lebenden, noch mit Plasma gefüllten Zellen bewerkstelligt werden, und der größte Teil des Holzes ist abgestorben. Die Zellen in den Holzstrahlen leben aber noch, wie die folgende Zeichnung eines Lindenholz-Querschnitts aus meinem botanischen Anfängerpraktikum demonstriert:
Die Schraffur deutet einen plasmatischen Inhalt der Holzstrahlzellen an. Man erkennt auch, wie diese radiären Verkehrsadern miteinander und mit den axialen Transportwegen verbunden sind: über sogenannte Holzparenchymzellen, die den weiten Gefäßen direkt benachbart sind und zusammen mit diesen und den Holzstrahlen ein riesiges Wegenetz bilden, das sich durch den ganzen Baum zieht.
Mit diesem wiederaufgefrischten Wissen über die Anatomie des Holzes begebe ich mich in meiner Wohnung auf die Suche nach Holzstrahlen. Seltsam, wie sich Alltagsgegenstände, die man zum Teil seit Jahrzehnten benutzt, auf einmal in interessante botanische Objekte zurückverwandeln ...
Botanische Indoor-Expedition
Zwei von den Großeltern geerbte Eichenholzstühle fallen mir ins Auge. Die Stuhlbeine belegen eindrucksvoll, dass quer geschnittenes Holz besonders druckfest ist: Der Schreiner hat sie so geschnitzt, dass die Gefäße und Holzfasern, die im Baum axial verliefen, auch hier wieder senkrecht stehen. In diesem Ausschnitt (Foto links) zeigen die großen Gefäß-Poren aus dem Frühholz den Verlauf der schmalen Jahresringe an: von links oben nach rechts unten. Eiche ist unter anderem deshalb viel widerstandsfähiger als zum Beispiel billiges Fichtenholz, weil sie so langsam wächst, also auf einen Zentimeter Dickenzuwachs viel mehr Jahresringe kommen.
Augenfälliger als die Jahresringe sind in diesem Querschnitt allerdings die Holzstrahlen, die in einem größeren Abstand von links unten nach rechts oben verlaufen. Sie sind mit dem bloßen Auge zu erkennen, weil sie – anders als bei der oben skizzierten Linde – etliche Zellschichten breit sind.
Der Küchenschrank aus tangential geschnittenem, gedämpftem Buchenholz (Foto rechts) zeigt ebenfalls breite und bis zu 5 Millimeter hohe Holzstrahlen, allerdings aus einem anderen Blickwinkel. Auch die oben erläuterte Fladerung ist gut zu sehen: Im Bildausschnitt wurden vier Jahresringe flach angeschnitten.
Zurück zum Haareis und der Hypothese von Wagner und Mätzler: Angesichts der Größe, Dichte und Anordnung der Holzstrahlen auf meinem Küchenschrank und der Tatsache, dass in solchen Strahlen energiereiche Leckereien für Pilze eingelagert sind, erscheint es mir plausibel, dass sie sich unter den richtigen Witterungsbedingungen in Düsen verwandeln, die wegen des Gasdrucks, den die Pilze mit ihrer Stoffwechselaktivität aufbauen, flüssiges Wasser ausstoßen, das an der Oberfläche sofort gefriert. Bloße Plausibilität ist natürlich schwächer als ein strenger Beweis, der nicht leicht zu erbringen ist und vermutlich noch eine Weile auf sich warten lässt. Ich fiebere jedenfalls schon dem nächsten Haareis-Wetter entgegen und werde dann, mit Kamera, Lupe und Botanisiertrommel bewaffnet, wieder in die Wälder ziehen.