Muster- und Strukturenratebild, März 2010
(Zur Auflösung und Erklärung bitte weiterlesen.)
Das Bild dieses Monats dürfte kein besonders schwieriges Rätsel sein, handelt es sich doch einfach um Eis, das im Winter auf einem kleinen Bächlein in der Steiermark wächst. Dennoch lohnt es sich, sich das Bild etwas genauer anzusehen, denn es geht bei unserem "Muster des Monats" nicht primär darum, möglichst verzwickte Rätsel zu lösen, sondern den Blick für die Welt zu schärfen. Selbst auf diesem einfachen Bild sind gleich mehrere Strukturen und Mechanismen zu erkennen, die man sich einmal kurz ins Bewusstsein rufen kann. Doch hier ist zunächst einmal ein größerer Ausschnitt sowie eine Landschaftsaufnahme, die dem Bild Kontext geben:
Hübsch, nicht? Welche verschiedenen Strukturen sind nun auf dem ersten Bild zu sehen? Zunächst ist da einmal das Eis selbst, das finger- oder astförmige ("dendritische") Strukturen bildet – ähnlich den riesig vergrößerten Armen einer Schneeflocke (sie sind etwa 5 bis 10 Zentimeter lang). Alleine daran sind schon mehrere Mechanismen beteiligt. Warum wächst das Eis nicht einfach flächig vom Ufer? Solche Dendriten (Arme) entstehen gewöhnlich durch einen Prozess der Selbstorganisation, bei dem die Spitze schneller neues Material ansammelt als die weiter hinten liegenden Kanten; sobald also ein Zacken ensteht, wird er schneller größer als die Gebiete zwischen den Zacken. Bei Schneeflocken ist dies der Fall, weil jeder Arm weit in den umgebenden Wasserdampf hineinreicht und damit von mehr Wassermolekülen getroffen wird, die an ihm festfrieren können; dagegen ist zwischen den Armen der Wasserdampf bald "aufgebraucht", sodass dort nur langsames Wachstum möglich ist. Diesen Prozess nennt man diffusionsbegrenztes Wachstum (oder DLA für das englische "diffusion limited aggregation").
Allerdings: Ich muss offen zugeben, dass ich nicht sicher bin, ob die Eiszähne auf diesem Bach auf eine ähnliche Weise zustande kommen. Für einen ähnlichen Prozess spricht, dass sich auf der Wasseroberfläche in kalten Zeiten überall kleine Eisnadeln bilden, die dann mit der Strömung treiben. Wiederum werden die vorhandenen Arme mehr dieser freien Eisnadeln einsammeln können als Gebiete zwischen den Armen, weil sie weiter ins Wasser hineinreichen. Andererseits ist das Wasser aber auch wärmer als das Eis, und die Spitzen sind von mehr Wasser umgeben als die weiter zurückliegenden Bereiche – sie müssten also auch leichter wieder schmelzen, und das Eis sollte dann eher gleichmäßig vom Ufer wachsen. Vermutlich wird ein solch ausgeprägtes Spitzenwachstum also bei bestimmten Temperatur- und Strömungsverhältnissen auftreten, während in anderen Fällen eine gerade Eisfront vom Ufer wächst (wie übrigens auch die Form von Schneeflocken von der Temperatur und der Luftfeuchte abhängt, wie Ukichiro Nakaya in umfangreichen Experimenten in den 1930er-Jahren herausfand).
So, das war der erste Mechanismus – jetzt wird's einfacher. Als nächstes sieht man nämlich, dass von jedem Hauptast der Eisarme Seitenäste gerade in einem Winkel von 60° abzweigen. Dieser Winkel gibt die grundlegende Symmetrie von Eiskristallen wieder – sie sind hexagonal, d.h. die einzelnen Wassermoleküle sind regelmäßig in sechseckigen Strukturen angeordnet. Diese Symmetrie schlägt sich in der Kristallform nieder, ebenso wie Kochsalz aufgrund der kubischen Kristallstruktur kleine würfelförmige Kristalle ausbildet.
So weit zum Eis. Neben dem Eis findet sich auf dem Foto aber auch noch Wasser. Und auch dieses bildet ein Muster, nämlich die Wellen auf der Oberfläche!
Und schließlich eine weitere Struktur, nämlich der Kies auf dem Grund des Baches. Obwohl Fließgewässer normalerweise Sediment in allen Größenordnung, vom feinsten Silt bis zu grobem Geröll, transportiert, haben die Steinchen hier alle eine ziemlich ähnliche Größe. Diese "Sedimentsortierung" ist eine typische Erscheinung vieler Bäche und Flüsse und beruht darauf, dass für den Transport größerer Brocken eine höhere Strömungsgeschwindigkeit nötig ist als für den Transport kleinerer. Bei relativ gleichmäßig strömenden Gewässern wird daher an einer Stelle meist nur Sediment einer bestimmten Größe abgelagert – größere Brocken erreichen die Stelle erst gar nicht, kleinere werden weiter stromabwärts transportiert. Sortiertes Sediment deutet für Geologen daher gewöhnlich auf relativ regelmäßige Strömungsverhältnisse hin, unsortiertes Sediment dagegen eher auf heftige Ereignisse wie Sturzfluten.
Auch in einem so unscheinbaren Bild ist also einiges zu entdecken, und einem Wissenschaftler wird daher nie langweilig!
Ach ja: Als Wissenschaftler sollte man natürlich bei derartigen Bildern eigentlich immer einen Maßstab (Münze, Stift, Geologenhammer oder ähnliches) mit fotografieren, denn ohne eine Vorstellung von der Größenskala der gezeigten Muster ist eine Interpretation oft schwierig. Meine Ausrede dafür, dies nicht getan zu haben, ist einfach, dass das Bachufer rutschig und schwer zugänglich war. Die Gefahr, hineinzufallen und mir kalte Füße zu holen, schien mir nicht vernachlässigbar. Und bei aller Begeisterung für die Wissenschaft: Dass ich mir kalte Füße für die Forschung hole, wollen Sie doch auch nicht, oder?