Muster- und Strukturenratebild, Februar 2010

Biokonvektion

(Zur Auflösung und Erklärung bitte weiterlesen.)

Nicht nur die Aufnahme ist leicht unscharf, sondern vor allem das Konvektionsmuster selbst. Im Unterschied zur bekannteren Wärmekonvektion, bei der eine Flüssigkeit in Bewegung gerät, weil sie von unten erhitzt wird und daher unten weniger dicht wird als oben, handelt es sich hier um Biokonvektion. Wir blicken von oben auf eine Petrischale mit einer dünnen Schicht einer Kultur der einzelligen Alge Euglena gracilis, mit deren Schwimmverhalten ich mich in meiner Diplomarbeit und meiner Dissertation befasst habe. Wie bei der thermischen Konvektion entsteht das Muster auch hier durch Umwälzung: Schwere Flüssigkeit von oben verdrängt die leichtere am Boden. Allerdings kommt der Dichteunterschied zwischen oben und unten hier nicht durch einen Temperaturgradienten zustande, sondern durch das Verhalten der Organismen.

Schemazeichnung Euglena gracilis

Euglena gracilis zählt zu den Algen, die Photosynthese betreiben, und somit nach der herkömmlichen Einteilung der Lebensformen zum Pflanzenreich. Sie weist aber einige Merkmale auf, die Laien wohl nur bei Tieren vermuten würden: Der Einzeller, der etwa 50 Mikrometer (also 1/20 Millimeter) lang ist, kann sich verformen, kriechen, durch Schlagen seiner am Vorderende entspringenden Geißel schwimmen und dank seines Augenflecks oder Stigmas sehen (oder zumindest hell und dunkel unterscheiden); er reagiert auf chemische Substanzen, als hätte er eine Nase, und "weiß", wo oben und wo unten ist. Im Allgemeinen schwimmt er nach oben: eine sogenannte negative Gravitaxis, also eine dem Schwerkraftvektor entgegengerichtete Orientierungsbewegung. In einer flachen Wasserschicht sammeln sich die Euglenen daher dicht unter der Oberfläche an. Da sie etwas schwerer als Wasser sind, wird die obere Flüssigkeitsschicht schwerer als das darunter liegende Medium. Sobald der Dichteunterschied eine kritische Grenze überschreitet, wälzt die Flüssigkeit sich um.

Dabei entsteht ein Muster, in dem die sattgrünen Regionen auf eine besonders hohe lokale Konzentration der Algen hinweisen. Das Muster ist zunächst unregelmäßig, da es von zahlreichen Zufällen abhängt, an welchen Stellen in der Petrischale die kritische Dichtedifferenz zuerst erreicht wird. Doch binnen weniger Minuten wird die Struktur regelmäßiger: ein typisches Selbstorganisationsphänomen.

Links sind fünf Petrischalen kurz nach dem Befüllen (oben) und zehn Minuten später (unten) zu sehen; der schwarze Balken ist zwei Zentimeter lang. Bei einer geringen Algenkonzentration oder in flachen Schichten entstehen Punktmuster, in algenreicheren Kulturen oder höher befüllten Gefäßen Netzmuster.

instabiler Biokonketionsstern

regelmäßiges Biokonvektionsmuster

Ist die Schicht mehr als etwa acht Millimeter hoch, so stabilisieren sich die Konvektionsschlieren überhaupt nicht. Das dynamische, verzweigte Muster erinnert manchmal an einen Stern wie in dem Becherglas rechts oben.

In flacheren Schichten kann das Muster hingegen ausgesprochen regelmäßig werden. Rechts unten sind alle Konvektionsbereiche in etwa gleich groß, und die Linien, in denen die algenreiche Oberflächenschicht zusammenströmt, um anschließend nach unten befördert zu werden, sind in Dreiecken angeordnet.

Die "Maschenweite" solcher Netzmuster hängt innerhalb gewisser Grenzen (etwa 2-8 Millimeter) mit der Schichtdicke zusammen: Je höher die Flüssigkeitsschicht, desto größer die einzelnen Konvektionsparzellen. Außerdem ist das Muster umso enger, je dichter die Algenkultur ist. Typische Konzentrationen liegen bei etwa einer Million Algen pro Milliliter.

Erst unter einer starken Stereolupe erkennt man, wie die Flüssigkeit strömt und wie die Zellen sich in ihr verhalten: An der zellreichen Oberfläche sammelt sich die schwere Flüssigkeit an den dunklen Punkten oder Linien; dort strömt sie rasch nach unten. Am Gefäßboden strömt sie wieder auseinander, und am Rand der Konvektionsparzellen fließt sie zur Oberfläche zurück.

Die Algenzellen, die von der raschen Strömung in den Punkten oder Linien mitgerissen werden, können sich am Boden befreien und schwimmen aus eigenem Antrieb an die Oberfläche zurück. Der biologische Hintergrund dieses Verhaltens: Oben finden sie das Licht und das Kohlendioxid, das sie zur Photosynthese benötigen.

Aber warum müssen sie sich dazu am Schwerkraftvektor orientieren, wo sie doch einen Augenfleck haben? Würde es nicht reichen, einfach in Richtung der größten Helligkeit zu schwimmen? Die Lösung dieses Rätsels könnte im typischen Lebensraum der Euglenen zu suchen sein: Misthaufen und Schlammpfützen. "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" ist eine schöne Parole, aber in derartig trüben und düsteren Gefilden findet man den Weg an die Oberfläche leichter, wenn man sich nicht nur auf sein Auge verlässt.

Literatur

Andrea Kamphuis (1993): Musterbildung in Kulturen der Alge Euglena gracilis: Experimente und Simulation (Diplomarbeit)

Andrea Kamphuis (1996): Biokonvektionsmuster in Kulturen der Alge Euglena gracilis. Mikrokosmos 85/2, S. 83-92.

Andrea Kamphuis (1999): Digitale Pfadanalyse am Beispiel der Schwerkraftausrichtung von Euglena gracilis in Flachküvetten (Dissertation)