Statt zum Jahreswechsel ein „Muster des Monats“ zu veröffentlichen, wollen wir, Andrea und Stephan, die Macher von Principia, diesmal das Jahr 2020 Revue passieren lassen. Ende 2020 haben wir per Skype über unsere beruflichen Aktivitäten, nebenberuflichen Projekte, Hobbys und Interessen gesprochen. Es geht um Makrelen und Esel, Algen, Bücher, den Klimawandel und seine Leugner, die Beobachtung der Natur und das erholsame und umweltfreundliche Reisen.
Brötchen verdienen
Andrea: Fangen wir mal mit den Beruflichen an. Wie lief dein Jahr als Übersetzer und Lektor, Stephan? Welche Bücher waren für dich besonders interessant?
Stephan: Ich habe unter anderem Bücher über Astronomie und Klima übersetzt, und eines über das Gehirn. Besonders gefreut hat mich die Mathematik. Ich habe als Physiker viel Mathematik studiert, aber leider in den letzten Jahren zu wenig Zeit dafür gehabt.
Bei einem Buch über die großen Ideen der Mathematik fand ich wieder sehr spannend, wie sich Wissenschaft und Kultur gegenseitig ergänzen und auch weltweit verbunden sind. So beruhte die Mathematik im antiken Griechenland stark auf der Geometrie. In Indien entstand eine andere Tradition, die viel stärker auf Zahlen und Rechnungen basierte und eher aus dem Handel kam. Die griechischen Philosophen dachten z.B. nicht an negative Zahlen, weil sie in der Geometrie keinen Sinn ergeben, für die indischen Mathematiker waren sie als „Schulden“ aber logisch. Im mittelalterlichen islamischen Kulturraum wurden diese beiden Ansätze dann zusammengeführt und es konnten neue Felder wie die Algebra entstehen.
Von der Antike bis in die Neuzeit waren an vielen wissenschaftlichen Entwicklungen mehrere Kulturen beteiligt. Kein einziger Kulturraum kann für sich beanspruchen, die Wiege oder das Zentrum des Fortschritts zu sein. Der Schwerpunkt hat sich zwar im Laufe der Geschichte immer wieder verlagert, aber fast jede Kultur hat Wichtiges beigetragen.
Andrea: Ich habe ja Biologie studiert, mit dem Schwerpunkt theoretische Biologie, die viel mit Mathematik zu tun hat. Aber das ist lange her, und inzwischen arbeite ich in der Pressestelle eines wissenschaftlichen Instituts in Köln. Dieses Jahr habe ich da viel Neues gelernt: Videos drehen und schneiden, überwiegend mit dem Smartphone, zum Teil auch am Laptop mit einem Programm, mit dem ich aus Fotos und Grafiken Erklärvideos generieren kann. Ich glaube, dieses Knowhow können wir auch für Principia nutzen – wobei Videostreaming natürlich mehr Energie verbraucht als Online-Texte, Fotos oder statische Grafiken. Man muss also immer überlegen, ob Bewegtbilder einen Mehrwert, einen Aha-Effekt mit sich bringen oder nur Spielerei sind. Ich bin gespannt, was uns so einfällt an kleinen Animationen oder Zeitraffer-Aufnahmen für unsere „Muster des Monats“ und das Magazin.
Arbeit ohne Brötchen (1): Algen
Stephan: Aber wir haben beide ja nicht nur unsere bezahlte Arbeit …
Andrea: … sondern machen auch viel im Übergangsbereich zwischen Beruf und Hobby. Bei dir ist das zum Beispiel Algacraft. Was hat es damit auf sich?
Stephan: Algacraft ist ein Startup-Unternehmen, das ich und ein paar Freunde aus verschiedenen Ländern gemeinsam vor einem Jahr in Edinburgh gegründet haben. Wir entwickeln einen Bioreaktor, also ein „Algenzuchtgerät“, der für die Algenforschung nützlich ist. Algen haben ein großes Potenzial für viele nützliche Anwendungen, von der Klärung von Abwässern bis hin zur Produktion von Lebensmitteln oder auch Rohstoffen für die Kunststoffherstellung, als Ersatz für Erdöl. Man muss dafür jeweils die richtigen Algenstämme finden und ihre Wachstumsbedingungen optimieren.
Dazu entwickeln wir einen automatisierten Bioreaktor. Er soll so günstig sein, dass man sehr viele davon in ein Labor stellen kann und viele Algen automatisch gleichzeitig unter verschiedenen Umweltbedingungen wachsen lassen kann, ohne dass ein Laborant manuell eingreifen muss. Zu meinen Aufgaben gehört die Programmierung der Steuersoftware.
Nebenher lerne ich dabei viel über Algen. Im Herbst habe ich in San Diego (Kalifornien) an einer Algenbiomasse-Konferenz „teilgenommen“. Dass sie dieses Jahr online war, war für uns ein großer Vorteil, denn die etwa 10.000 € für Konferenzgebühren, Reisekosten und Hotelübernachtungen hätten wir nicht zahlen können. So konnte ich aber einiges über Algen lernen und einige Leute kennenlernen.
Andrea: Sind das alles Grünalgen? Ich erinnere mich aus dem Studium, dass die Klassifikation der Algen nicht ganz einfach ist.
Stephan: Genau, die Klassifikation ist unheimlich kompliziert. Aber wir gehen das pragmatisch an: Ob Grünalgen, Braunalgen, Rotalgen, Cyanobakterien und wie sie alle heißen – alles, was man in unserem Bioreaktor wachsen lassen kann, ist für uns interessant.
Andrea: Aber Tang eher nicht?
Stephan: Nein, es geht nur um Mikroalgen, also einzellige Algen, die im Wasser treiben. Also etwa Arten, die als Phytoplankton im Meer leben, oder solche, die in Seen oder an Stränden zu gefährlichen Algenblüten führen, wenn es zu viel Nährstoffe gibt. Es entwickelt sich gerade eine große Industrie, die solche Mikroalgen züchten und nutzen will, und wir hoffen, mit unserem Bioreaktor für die Forschung einen Fuß in der Tür zu haben.
Arbeit ohne Brötchen 2: Biologie der Autoimmunerkrankungen
Andrea: Ich habe ja 2018 den ersten Band meines Autoimmunbuchs veröffentlicht und wollte mir mit dem zweiten Band nicht noch mal sieben Jahre Zeit lassen. Aber 2020 hatte ich große Konzentrationsprobleme, wie viele Leute in der Corona-Krise. Ich hatte schon Lust, weiterzuschreiben, und habe auch ein paar Anläufe gemacht.
Es soll eine Art Naturgeschichte des Immunsystems werden, von den Anfängen unter den ersten Lebensformen, bei denen es sicher schon genetische Parasiten gab, die abgewehrt werden mussten, bis hin zum modernen Menschen, dessen Immunsystem gewissermaßen in der Steinzeit verharrt und durch die heutigen, ganz anders gearteten Umwelteinflüsse aus dem Takt gerät, was zu Autoimmunstörungen führen kann: ein hoch spannendes Thema für mich als Biologin, das sogar eine Schnittmenge mit dem Thema Corona-Epidemie hat. Denn die Infektion kann womöglich – wie damals die Schweinegrippe – durch Kreuzreaktionen Autoimmunstörungen auslösen.
Umso ärgerlicher, dass ich 2020 so schlecht vorangekommen bin. Ich habe gerade wieder eine E-Mail von einem Leser des ersten Bandes erhalten, der sich Sorgen macht, was mit Band 2 passiert ist, und mir Hilfe bei der Veröffentlichung angeboten hat. Aber die technische Umsetzung ist nicht das Problem: Ich muss mich nur aufs Schreiben konzentrieren. Zum Glück hat sich die Lese- und Schreibblockade in den letzten zwei Wochen gelegt.
Jetzt muss ich nur zusehen, dass ich mich beruflich nicht über Gebühr einspannen lasse und auch mein ehrenamtliches Engagement in der Klimabewegung, vor allem bei den Scientists for Future, reduziere, um mich wieder aufs Schreiben konzentrieren zu können.
Übrigens gehört auch dieser Leser zum alternativmedizinischen Spektrum. Dass mir fast nur Käuferinnen und Käufer schreiben, die mit evidenzbasierter Medizin nicht viel am Hut haben und zum Teil klar esoterische Ansichten vertreten, irritiert mich schon ein bisschen. Als Biologin gehe ich nämlich äußerst nüchtern an das Thema heran, und mit all den alternativen Therapietipps und Heilslehren kann ich nichts anfangen. Mir fällt schwer, auf solche Zuschriften freundlich und konstruktiv zu antworten, weil es so wenig Anknüpfungspunkte gibt.
Der Klimawandel und seine Leugner
Stephan: Auch zu meiner Website Klima und Geschichte kriege ich oft eher merkwürdige Kommentare: aus der Ecke der Klimaskeptiker.
Klimageschichte zieht Skeptiker besonders an. Dass sich das Klima auch in der Vergangenheit geändert hat, sehen sie als Bestätigung ihrer Vorstellung, der heutige Wandel sei harmlos. Das ist eine falsche Folgerung. Tatsächlich gibt es viele Faktoren, die das Klima beeinflussen, darunter natürliche wie Sonnenaktivität oder Vulkanismus, aber heute eben auch von Menschen eingeführte wie die anthropogenen Treibhausgase. Die Behauptung, wir bräuchten uns über menschliche Einflüsse keine Sorgen zu machen, weil sich das Klima immer schon natürlich geändert hat, ist ebenso ein Fehlschluss wie die Aussage, man bräuchte nichts z. B. gegen Verkehrsunfälle tun, weil Menschen schon immer an Krankheiten gestorben sind.
Für die Wissenschaft sind frühere Klimaveränderungen sehr wichtig, weil wir damit die Klimamodelle testen können. Wenn man die historischen Veränderungen mit den Modellen reproduzieren kann, dann repräsentieren die Modelle die wesentlichen Elemente des Klimasystems offenbar gut, und wir können auch ihren Projektionen in die Zukunft trauen. Dass dies tatsächlich so ist, zeigen viele der wissenschaftlichen Arbeiten, auf die ich in „Klima und Geschichte“ hinweise.
Die große Frage ist, wie man mit Skeptikern umgeht. Ich versuche immer erst einmal einzuschätzen, mit welchem Hintergrund die Leute kommen. Viele Menschen erhalten unterschiedliche Informationen aus Quellen verschiedenster Qualität und können das ohne Hintergrundwissen nur schwer einordnen. Daher gibt es viele, die ehrliche Fragen haben und interessiert sind, mehr zu lernen. Dann bin ich im Prinzip gerne zu Gesprächen bereit – wenn ich gerade Zeit habe.
Es gibt aber leider auch die dogmatischen Skeptiker, denen es nicht um ein besseres Verständnis geht, sondern die gezielt stören und frustrieren wollen, indem sie einen in mühsame, zeitraubende Diskussionen verwickeln. So können sie den Fortschritt durch das Aufwärmen immer derselben Behauptungen bremsen. Man muss sehr aufpassen, sich in solche Gespräche nicht reinziehen zu lassen.
Die grundlegenden Fragen des Klimawandels sind trotz wissenschaftlicher Detaildebatten im Wesentlichen klar. Wenn man immer wieder die Grundlagen in Zweifel zieht, kommt man nicht zu dem praktischen Handeln, das jetzt dringend nötig ist. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was uns vorwärts bringt.
Du hast dich ja auch damit beschäftigt, wie man man Menschen helfen kann, in der Vielfalt der Informationen das Richtige zu finden, und einen nützlichen Ratgeber geschrieben.
Andrea: Na ja, Ratgeber … Das ist 2019 als unterhaltsamer Kurzvortrag entstanden, mit dem Titel „Gute Seiten, schlechte Seiten“. Für die Kölner „Scientists for Future“-Gruppe hatte ich eine Reihe guter Bücher über den Klimawandel angeschafft, die wir bei Kundgebungen und Infoveranstaltungen auf unserem Büchertisch präsentieren.
Es gibt aber auch bergeweise Bücher, in denen der menschengemachte Klimawandel geleugnet, die Rolle des Menschen kleingeredet oder die Folgen verharmlost werden – je nachdem, wo man sucht, sogar mehr unseriöse als seriöse Werke. Sich an einzelnen Büchern abzuarbeiten lohnt sich nicht und kann sogar nach hinten losgehen; dann verbreitet man den Blödsinn womöglich ungewollt noch weiter.
Stattdessen wollte ich Menschen, die sich bei Amazon oder anderswo nach Sachbüchern umsehen, einfache Heuristiken an die Hand geben, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Wie erkennt man mit wenigen Blicken oder Klicks, ob ein Buch von einem dubiosen Klimawandel-Leugner oder -Relativierer geschrieben wurde? Später habe ich den Vortrag zu einem Website-Artikel weiterverarbeitet.
Übrigens tauchen bei solchen Informationsveranstaltungen auch gelegentlich Klimawandelskeptiker oder -leugner auf. Die Gespräche mit ihnen sind selten konstruktiv und manchmal regelrecht belastend. Wie du gesagt hast, sind das oft Leute, die nur ihre Botschaft abspulen wollen, teilweise erschreckend extremistische Botschaften, durchsetzt mit Verschwörungsmythen bis hin zu antisemitischen Klischees. Die wollen nichts dazulernen, die hören gar nicht richtig zu. Es gibt bei uns in Köln auch eine Schnittmenge mit der Coronaleugner-Szene.
Stephan: Da ähneln sich unsere Erfahrungen. Das habe ich auch bei öffentlichen Veranstaltungen erlebt, die ich als Projektmanager organisiert habe, und oft ist es schwierig, wenn z. B. ein pensionierter fachfremder Professor ankommt, der durch sein Auftreten und seinen Titel eine Diskussion schnell dominiert und Umstehende für sich einnimmt.
Praktisches Handeln und politisches Engagement
Stephan: Es hat wenig Sinn, sich in Diskussionen mit Skeptikern zu zerfasern und ihnen so auch zu erlauben, die Debatten zu dominieren. Wir müssen vielmehr die guten, fundierten Informationen immer wieder hinaustragen, damit mehr Menschen Zugang zu ihnen bekommen.
Die grundlegenden wissenschaftlichen Fragen sind ja längst klar: Das Klima ändert sich in gefährlicher Weise und dafür sind die von uns produzierten Treibhausgase verantwortlich. Woran es mangelt, ist das praktische Handeln, sowohl im Großen als auch im Kleinen. Ich habe dieses Jahr einige Bücher für Jugendliche zu Klimathemen übersetzt, und was mich besonders gefreut hat: Die Handlungsvorschläge darin erschöpfen sich nicht in dem üblichen „Mach das Licht aus“, sondern die Leserinnen und Leser werden dazu ermuntert, politisch aktiv zu werden, um auch im Großen etwas zu bewegen.
Der eigene Lebensstil ist natürlich wichtig, aber die individuellen Möglichkeiten sind beschränkt und man unterliegt vielen Zwängen, wenn gesellschaftliche und politische Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Wenn der Flug wesentlich billiger ist als die Zugfahrt, oder wenn der öffentliche Nahverkehr nicht funktioniert, dann ist es schwierig oder praktisch nicht möglich, richtig zu handeln. Wo und was wir einkaufen, hängt davon ab, welche Läden es gibt, und so weiter.
Realistischerweise sind wir in unserem eigenen Handeln immer beschränkt. Insofern ist das politische Engagement unheimlich wichtig.
Andrea: Ich habe mich 2020 unter anderem um die Website und den Twitter-Account unserer Regionalgruppe der „Scientists for Future“ gekümmert. Die Online- und Social-Media-Redaktion habe ich jetzt zum Jahreswechsel für mindestens ein halbes Jahr abgegeben, denn das erfordert fast tägliche Präsenz und war mit meinem Brotberuf und der Weiterarbeit am Buch kaum zu vereinbaren.
Aber ich bleibe in der Gruppe. 2020 war ja in Nordrhein-Westfalen ein Wahljahr, und so hat die Gruppe im Frühjahr eine „Vision Köln 2030“ erarbeitet, in der wir aufzeigen, in welchen Handlungsfeldern die Stadt jetzt schleunigst aktiv werden muss, damit das Versprechen des Pariser Klima-Abkommens noch gehalten werden kann – zum Beispiel Verkehr oder Stadtentwicklung. Die geplante Podiumsdiskussion mit den Spitzen der Kölner Kommunalpolitik mussten wir wegen der Pandemie in eine Online-Veranstaltung umwandeln, aber das hat gut geklappt – und hat sogar den Vorteil, dass man sich die Aufzeichnung jederzeit ansehen kann. Ich bin gespannt, was davon die künftige grün-schwarz-violette Koalition im Stadtrat umsetzen wird.
Stephan: Ich muss leider sagen, dass ich politisch nicht so aktiv war, wie ich es gerne gewesen wäre. Aber ich habe doch etwas Lobbyarbeit geleistet für bessere Fahrradwege in Edinburgh. Die Stadt hat letztes Jahr begonnen, in meiner Nachbarschaft einen zu planen. Im Rahmen eines Nachbarschaftsvereins habe ich eine lange Stellungnahme geschrieben, bei Bürgertreffen argumentiert, E-Mails an Stadträte geschrieben usw.
Die Erfahrungen waren gemischt. Obwohl dieser Fahrradweg den Autoverkehr kaum einschränkt, da er neben der Straße verläuft, waren die Widerstände selbst gegen diese kleinen Änderungen erstaunlich. Es reichte von allgemeiner Ablehnung wie „Fahrradfahrer halten sich nie an Regeln, warum sollten die Steuergelder kriegen“ bis zu persönlichen Angriffen nach der Art „Was redest du hier als Ausländer, wenn es dir hier nicht passt, dann geh doch zurück, wo du herkommst!“. Glücklicherweise waren bei diesem Projekt die Angriffe in der Minderheit und hatten letztlich keine Wirkung. Nächstes Jahr soll der Radweg gebaut werden.
Aber oft wird die öffentliche Debatte von den aggressiven Stimmen dominiert. Das kenne ich in Edinburgh aus anderen Stadtteilen, wo ähnliche Projekte endlos hinausgezögert wurden, sobald Parkplätze entfernt oder Straßen verengt werden sollten. Die Stimmung ist teils so aufgeheizt, dass sich einige gar nicht mehr trauen, die Projekte zu unterstützen.
Das ist sehr schade, denn gerade solche örtlichen Dinge können mehr Menschen klimafreundliches Handeln ermöglichen, wie etwa einer Nachbarin, die gelegentlich mit dem Rad fährt, aber sich oft nicht traut, weil ihr die Straßen einfach zu gefährlich sind.
Andrea: Bei der Fahrradnutzung als Alternative zu Bus und Bahn hat die Corona-Krise was Positives bewirkt, das hoffentlich erhalten bleibt. Inzwischen haben viele Leute gemerkt, dass man zum Beispiel auch im Winter Rad fahren kann, auch zur Arbeit oder zum Einkaufen.
Köln ist leider eine „autogerecht“ ausgebaute Stadt, in der Fußgänger und Radler an den unmöglichsten Stellen zusammengezwängt oder unter die Erde verbannt werden, und wir hatten auch kaum Popup-Radwege – eigentlich nur bei einzelnen Aktionstagen oder Kundgebungen. Der nachhaltige Umbau der Stadt, weg von der Auto-Infrastruktur, geht zäh vonstatten; da kann ich dir nur beipflichten.
Uns läuft die Zeit weg für die Transformation, und die Instrumente, die die Politik für Aushandlungsprozesse entwickelt hat, sind einfach zu träge sind für das Tempo des Klimawandels und des Verlusts an Biodiversität. Das war auch mein Fazit bei der Vorbereitung eines Videokonferenz-Vortrags, den ich kürzlich vor klima- und umweltpolitisch interessierten Kolleginnen und Kollegen im Institut gehalten habe, im Zuge der „nachhaltigen Mittagspause“, die wir jetzt einmal pro Monat veranstalten.
Da habe ich was zum Makrelenstreit erzählt, also zu den fischereipolitischen Auseinandersetzungen der Nationen, die nordostatlantische Makrelen fangen. Die Schwärme sind in den letzten Jahrzehnten massiv nach Norden abgewandert, Tausende von Kilometern, vermutlich aufgrund des Klimawandels, also der Erwärmung arktischer Gewässer und der veränderten Meeresströmungen dort. Jetzt halten sie sich überwiegend vor Grönland, Spitzbergen und den Faröer auf. Das hat die mühsam ausgehandelten nachhaltigen Fangquoten zunichte gemacht, und da manche Staaten nun einseitig ihre Quote massiv überschreiten, hat das Marine Stewardship Council dem nordostatlantischen Makrelenfang komplett das Nachhaltigskeits-Zertifikat entzogen.
Als wären die naturwissenschaftliche Basis des Klimawandels und die Ökologie der Meere nicht schon komplex genug, kommen auch noch die Ökonomie und die internationale Politik ins Spiel. Und da sind die bisherigen Instrumente zur Konfliktlösung einfach zu langsam und zu unverbindlich. Ich möchte momentan auch keine Wette darauf abschließen, ob das alles noch gut ausgeht mit der Eindämmung des Klimawandels und der ökologischen Krisen.
Natur und Klima erfahren
Stephan: Ein weiterer Aspekt der Öffentlichkeitsarbeit ist ja die Unterstützung der Naturbeobachtung, in der Hoffnung, dass Menschen dann unmittelbar erleben, wie sich ihre Umgebung verändert. Auf Principia hast du die Baum-Kolumne begonnen, aber du machst ja noch mehr.
Andrea: Die ursprüngliche Idee war, den Klimawandel auch für Menschen in der Stadt, die eben keine Makrelenforschung im Atlantik betreiben können, sinnlich erfahrbar zu machen. Ich habe mich etwas mit Phänologie beschäftigt, also mit dem Timing biologischer Vorgänge im Jahresverlauf, das durch den Klimawandel kräftig durcheinander gerät. Viele Bäume blühen eher, der Frühling setzt früher ein, die Ruhephase der Pflanzen im Winter ist kürzer und nicht so ausgeprägt. Dadurch kommen alle möglichen Nahrungsnetze in der Natur aus dem Gleichgewicht, weil zum Beispiel Insektenlarven sich schneller entwickeln und dann als Futter für Jungvögel fehlen.
Ich dachte, dass man das auch in der Stadt erleben könnte, indem man etwa bestimmte markante Bäume über die Jahre immer wieder aufsucht und ihren Blühbeginn und so weiter notiert: eine Art Citizen-Science-Projekt. Aber bisher habe ich nur die Baum-Kolumne bei Principia begonnen. Denn um phänologische Verschiebungen zu erfassen, braucht man Langzeitdaten. Wichtig wäre auch eine gute Datenbasis über den Baumbestand in der Stadt. Köln hat zwar ein Baumkataster, das auch auf einer Open-Data-Plattform veröffentlicht wurde, aber die Daten waren zumindest vor dem letzten Update extrem unvollständig und fehlerhaft. Ich habe ein paar Mal vergeblich versucht, angeblich besonders alte oder markante Bäume im Stadtgebiet aufzusuchen, die sich als längst gefällt oder unscheinbar erwiesen, und dann aufgegeben.
Frustrierend ist auch meine verkümmerte Artenkenntnis: Gerade im Winter, wenn Laub, Blüten und Früchte als Bestimmungsmerkmale wegfallen, komme ich oft ins Schwimmen. Und um aus dem Zustand oder Verhalten eines Baums irgendwas abzuleiten, sei es in Sachen Klimawandel oder Baumgesundheit, muss ich ja zumindest wissen, worum es sich handelt. Ich habe mir fest vorgenommen, meine Baumartenkenntnis zu verbessern.
Stephan: Ich habe in der Schule und im Studium öfter versucht, anhand von Büchern Pflanzen zu identifizieren. Das war aber sehr mühsam; es gab diese Bestimmungsschlüssel, für die man nach obskuren Merkmalen von Pflänzchen oder Käferchen suchen musste. Inzwischen geht das mit moderner Technik aber besser. In dem Ökologie-Buch, das ich letztes Jahr übersetzt habe, wurden Smartphone-Apps erwähnt. Man macht einfach ein Foto, und das wird dann teils mit automatischer Bilderkennung, teils durch eine Benutzercommunity bestimmt.
Zumindest ich habe jetzt viel mehr Spaß daran, Fotos zu machen von Pflanzen oder auch Insekten, oder was einem sonst vor die Linse läuft – nur Vögel sind blöd, die bleiben ja nicht sitzen! – und sie dann mit Apps wie iNaturalist einfach bestimmen zu können, ohne diese umständlichen Bestimmungsschlüssel.
Gleichzeitig trägt man damit auch zur Forschung bei, weil die Beobachtungen in Datenbanken festgehalten werden, die die Verbreitung der verschiedenen Pflanzen- oder Tierarten dokumentieren, auch über lang Zeiträume hinweg, um Änderungen z. B. durch den Klimawandel zu erkennen.
Andrea: Ich versuche gerade hier beim Familienbesuch in Nordfriesland wieder ein paar europäische Bäume kennen zu lernen. Ein Freund hat mir schon einen virtuellen Vogel gezeigt wegen dieses Anspruchs, nicht nur zu sagen „Aha, ein Baum“, sondern eher „Aha, eine Mehlbeere, typisch für die nordfriesischen Knicks“. Ich finde es halt schön, wenn man in in einer Landschaft gewissermaßen lesen kann: wenn man in den verschiedenen Gegenden Europas, die man etwa per Fahrrad oder Zug bereist, die wichtigsten Gesteine und eben auch die Leitvegetation erkennt und daraus etwas über die Geschichte und Ökologie seiner Umgebung ableiten kann.
Gesteine decken diese Bestimmungs-Apps leider nicht ab, wie auch! Aber iNaturalist ist für Pflanzen und Tiere wunderbar, gerade durch diese Kombination aus Datenbank und künstlicher Intelligenz, die gleich Vorschläge macht, und einer Community, die einen auch korrigiert, wenn man daneben liegt oder überoptimistisch eine Art angibt, obwohl die Fotos nur eine Bestimmung der Gattung ermöglichen. Das zeigt einem die Grenzen des eigenen Wissens auf. Bei Korrekturen versuche ich dann herauszufinden, woran die Leute das erkannt haben, zum Beispiel am dicken Schnabel einer Möwe, der gegen meinen Vorschlag „Silbermöwe“ sprach.
Stephan: In der Landschaft lesen zu können ist tatsächlich sehr interessant. Ich habe neben Physik auch ein paar Jahre Geologie studiert, genau mit dem Interesse, dass man Landschaftsformen, Berge, Ebenen, verschiedene Gesteine usw. sieht und eine Geschichte erkennt, wie die Landschaft entstanden ist.
Das versuchen wir ja mit dem „Muster des Monats“ auch zu vermitteln. Es geht nicht nur um schöne Bilder, sondern auch darum, in groben Zügen zu verstehen, wie die Phänomene eigentlich entstehen.
Andrea: Und das interessiert auch viele Leute, die zum Beispiel eine schöne Wolkenformation fotografiert haben und sich dann fragen, wie die zustande gekommen ist.
Was mir an iNaturalist und ähnlichen Apps auch gut gefällt: Sie geben einem Hinweise, was in der Umgebung noch so zu sehen ist. Hier in der Gegend soll zum Beispiel ein Seeadler unterwegs sein. Ich muss mich in den nächsten Tagen noch mal aufs Rad schwingen und den suchen.
Umweltfreundliches Reisen macht Spaß
Stephan: Das ist eine gute Überleitung zum Thema Reisen! Wir sind ja beide darauf umgestiegen, geruhsamer zu reisen, also etwa nicht mehr zu fliegen.
Andrea: Wobei du schon viel früher auf das Fliegen verzichtet und auf Bahn- und Radreisen gesetzt hast als wir, da warst du uns ein Vorbild.
Stephan: Als ich noch Projektmanager an der Uni war, musste ich viel fliegen, weil ich Treffen und Konferenzen organisieren musste. Und wenn die Bahnreise länger dauerte und viel teurer war als der Flug, dann konnte ich beruflich die Kosten und den Arbeitszeitverlust kaum rechtfertigen. Jetzt als Freiberufler bin ich flexibler.
Klar, langsam Reisen ist umweltfreundlicher, aber vor allem ist es einfacher, und es bereitet weniger Stress und viel mehr Freude. In der Praxis kostet es auch nicht mehr Zeit, im Gegenteil. Wenn ich von Edinburgh nach Deutschland reise, fahre ich mit der Fähre über Nacht. Da habe ich eine Kabine, kann arbeiten oder lesen. Zwar ist die Flugzeit nominell kürzer, aber letztlich sitze ich doch den ganzen Tag herum und warte darauf, dass es weiter geht, ohne die Zeit sinnvoll zu nutzen.
Land- und Seereisen sind einfacher und auch interessanter. Man erlebt viele Dinge. Letztes Jahr (2019) lief z. B. in der Schweiz auf dem Campingplatz vor meinem Zelt ein Esel herum. Sein Besitzer machte eine Pilgerreise durch Europa. Auf Flughäfen passiert einem das nicht, dort gibt es zwar auch genug Esel, aber nicht in diesem Sinne!
So habe ich in den letzten Jahren schon viele Städte besucht, die auf dem Weg lagen und in denen ich auch übernachtet habe, und habe viele Dinge gesehen, die ich gar nicht geplant hatte. Innerhalb Europas kann man auf jeden Fall gut und schnell am Boden reisen.
Nützlich ist dabei das Brompton-Faltrad, das ich mir vor drei Jahren zugelegt habe. Ich kann es klein zusammenlegen und leicht in der Bahn mitnehmen und bin flexibel, kann Orte erkunden und auch Strecken wie zwischen Fährhafen und Bahnhof schnell überwinden. Hier sind wir wieder bei den politischen Strukturen: Wenn zwischen Hafen und Bahnhof einige Kilometer liegen, dann wird es für viele Reisende, z. B. Familien, gleich viel schwieriger.
Andrea: Nicht zuletzt wegen deiner guten Erfahrungen haben wir uns – eigentlich für den diesjährigen Sommerurlaub auf den Aland-Inseln, der dann leider ausfiel – ebenfalls Bromptons zugelegt. Mit denen machen wir im Moment hier in Friesland Ausflüge, etwa ans Meer, und erledigen die Familieneinkäufe. Dafür haben wir einen Anhänger, der ordentlich Volumen und Gewicht aushält.
Und wir reisen auch gerne mit Nachtzügen durch Europa, letztes Jahr zum Beispiel ins Trentino. Wobei das beides, die Bromptons und der NightJet, schon recht kostspielige Transportmodi für privilegierte Menschen wie uns sind. Andererseits sparen wir uns so den teuren Unterhalt eines Autos und im Urlaub jeweils eine Hotel-Übernachtung durch das nächtliche Reisen. Wir malen uns jetzt schon aus, wohin wir nach der Corona-Krise reisen wollen. Vielleicht mit dem Nachtzug von Köln nach Malmö, wenn der dann schon fährt, oder von Stockholm nach Umea – und dann mit den Rädern zurück nach Stockholm.
Stephan: Na, das sind ja tolle Pläne! Da werden wir am Jahresende 2021 sicher wieder viel zu erzählen haben ...
Andrea: Vielleicht auch erst Ende 2022. Vielleicht wird 2021 noch so ein Jahr, in dem wir eher die Online-Datenbanken mit Pflanzen- und Tierbeobachtungen aus unserer näheren Umgebung füttern.