Muster- und Strukturenratebild, August 2013
(Zur Erklärung bitte weiterlesen)
Was für ein seltsames Pflänzchen hat sich denn da auf unserem Balkon angesiedelt? Natürlich ist es gar keine Pflanze, trotz all der Äste und Zweige. Und wer einwendet, dass es sich gar nicht um ein "Muster in der Natur" handelt, hat im Grunde Recht. Aus Bequemlichkeit und Urlaubsvorfreude überdehne ich den Naturbegriff gerade etwas. Hier das Objekt noch einmal zur Gänze, auf dem leider nicht ganz sauberen Balkontisch liegend:
Es handelt sich um einen Acrylglasblock mit einer dreidimensionalen Lichtenberg-Figur. Der Block misst etwa 12 mal 9 mal 4 Zentimeter, und wenn man ihn nicht direkt frontal betrachtet, sieht man das weiße Bäumchen gleich mehrfach:
Lichtenberg-Figuren entstehen durch abrupte Entladung elektrischer Hochspannung in oder auf isolierendem Material. Georg Christoph Lichtenberg hat sie 1778 entdeckt, als er mit Harzstaub auf einer Isolatorplatte herumspielte. Für die moderne dreidimensionale Version wird ein Kunststoffblock in einem Teilchenbeschleuniger mit Elektronen beschossen, die sich in dem isolierenden Material ansammeln.
Anschließend schlägt man mit einer Metallspitze auf einen Rand des Blocks und löst so eine Kettenreaktion aus: An der Anschlagstelle bilden sich kleine Risse, durch die Elektronen freigesetzt werden, sodass sie die enorme Spannung abbauen können. Die ersten "fliehenden" Elektronen bahnen den nächsten den Weg. Allmählich bilden sich Hauptwege aus, die man hier an den kleinen Muschelbrüchen erkennt und denen weitere Elektronen aus dem umliegenden Material zustreben, wobei sie Nebenwege schaffen - und so weiter, bis sich die Hochspannung im ganzen Block entladen hat.
Im letzten Foto blicken wir von der Aufschlagstelle, also von der "Wurzel" des Bäumchens, in den Block hinein. Man sieht, dass die Struktur wirklich dreidimensional ist:
Eine ausführliche englische Beschreibung der Herstellung solcher Lichtenberg-Figuren und jede Menge Hintergrundinformationen und Bilder finden sich auf der Website eines Anbieters.
Lichtenberg-Figuren sind gute Annäherungen an Fraktale, genau wie Rußflocken, Flusssysteme und manche Pflanzen. Modelliert werden sie mit sogenannten DLA-Modellen (diffusion-limited aggregation). Bei Rußflocken ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein weiterer Partikel an eine entstehende Flocke anlagert, an den Spitzen am größten. Ab und zu diffundiert aber mal ein Partikel an einer Spitze vorbei und lagert sich seitlich an einen Zweig an, wodurch eine neue Spitze und damit ein neuer Abzweig entsteht. Obwohl sich bei den Lichtenberg-Figuren keine Materie ablagert, sondern Spannung entlädt, liegt den Vorgängen ein ähnlicher Mechanismus zugrunde.
Es gibt auch völlig natürliche Lichtenberg-Figuren: Wer die Google-Bildersuche (leichte Triggerwarnung) bemüht, findet neben einem Verzweigungsmuster auf einem Golfplatz auch etliche Fotos von Menschen, deren Haut nach einem Blitzeinschlag ein - zum Glück vorübergehendes - "Bäumchen-Tattoo" ziert. Durchaus hübsch, aber ich hoffe trotzdem, dass wir beim Wandern in der nordnorwegischen Tundra von Gewittern verschont bleiben.