Die meisten deutschen Wälder sind gut aufgeräumte Forste. Aber ab und zu stellt sich Urwald-Feeling ein, nämlich dann, wenn man auf Lianen trifft. Was sind das eigentlich für Pflanzen, diese europäischen Lianen? Und was rankt, klettert, klimmt und windet sich sonst noch so in unserer Flora?
Die Gewöhnliche Waldrebe, die diese knorrigen Schlingen hinterlassen hat, schlängelt sich in jungen Jahren ganz unscheinbar durch den Bodenbewuchs und dockt dort an alles an, was ihren Weg kreuzt:
Sie gehört zu den Kletterpflanzen, die man nach dem Mechanismus ihres Kletterns in Selbstklimmer, Schlingpflanzen, Rankpflanzen und Spreizklimmer einteilt. Letztere haben gar keine Organe, um sich an ein Gerüst zu klammern, sondern "verheddern" sich einfach mit ihren starren Sprossen und häufig auch Dornen oder Stacheln in ihrer Umgebung. Ein Beispiel ist die Brombeere. Im Folgenden stelle ich die anderen Gruppen vor. Während Rankpflanzen und Selbstklimmer eigene Kletter-Organe ausbilden, erfüllen bei den Schlingpflanzen die Sprossachsen und Blattstiele diese Funktion. Die Gewöhnliche Waldrebe zum Beispiel hat gegenständige Fiederblätter, deren Stiele sich bei Kontakt zu einem Objekt (meist einer anderen Pflanze) hinkrümmen und sich so an ihm verankern:
Durch ihre Wuchsstrategie maximiert diese Schlingpflanze die Chance, auf eine solche Kletterhilfe zu stoßen: Jedes junge Fiederblattpärchen an einer Sprossspitze wächst ungefähr im rechten Winkel nicht nur zum Spross, sondern auch zum vorigen Pärchen, und vier der fünf Teilblättchen stehen ihrerseits etwa im rechten Winkel vom Blattstiel ab. So erkundet der Spross den umliegenden Luftraum in allen drei Dimensionen. Hier eine Sprossspitze, die ungefähr waagerecht über meinem Kopf wuchs, während ich unter einer herrlichen alten Kastanie im Schatten saß. Es ist wegen des Kastanienlaubs und der Perspektive etwas schwer zu erkennen, aber das älteste der drei Fiederblattpaare (im Bild oben) wächst ungefähr nach unten (auf mich zu) und nach oben (in Richtung Baumkrone); das mittlere Paar breitet sich waagerecht nach links und rechts aus; und die noch sehr kleinen Fiederblättchen an der Sprossspitze (im Bild unten) erkundet wieder den Raum oberhalb und unterhalb des Sprosses.
Im Eingangsbild ist noch eine weitere Kletterpflanze zu sehen, die eine ganz andere Strategie verfolgt: Efeu. Dieser immergrüne Haftwurzler gehört zu den Selbstklimmern, da er mit seinen Haftwurzeln selbst in kleinsten Unebenheiten Halt findet und daher ohne Stützgerüst zum Beispiel an Hauswänden hochklettert, was die Waldrebe nicht schafft. Hier sieht man zwei der an Tausendfüßlerbeine erinnernden Haftwurzeln:
Mit den Jahren verholzt Efeu ebenso massiv wie die Waldrebe; dann scheinen sich borstige Würgschlangen um die Baumstämme zu winden:
Warum machen sich Kletterpflanzen überhaupt diese Mühe? Sie versuchen mit möglichst geringem Material-, also auch Energieaufwand möglichst viel Sonnenlicht zu ergattern. Dafür müssen sie nach oben, hinaus aus dem Schatten, den die anderen Pflanzen werfen. Sie sind zwar keine Schmarotzer, entziehen ihren Kletterhilfen also keine Nährstoffe, aber sie bedienen sich der stabilen Stämme und rauben im Erfolgsfall ihrerseits den Kletthilfen viel Licht. An diesen im Winter kahlen Laubbäumen stammt dann auch alles Grün, das man sieht, vom Efeu:
Wenden wir uns nun den Rankpflanzen zu. Zu ihnen zählen beispielsweise diese beliebte Kulturpflanze und ihre Wildform:
Ihre Sprossen bilden neben Blättern, die Photosynthese betreiben, und Blütenständen, aus denen später die Trauben werden, verzweigte Ranken aus, die auf der Suche nach Halt den Raum erkunden:
Zunächst nur leicht gekrümmt, wickeln sie sich bei Kontakt zu einem geeigneten Klettergerüst zu einer Helix zusammen. Hier hat sich die dünne obere Ranke allerdings nur um den eigenen Spross gewunden, was in Sachen Halt nicht wirklich weiterhilft:
Die Sprosse des Weins sind immerhin so stabil, dass sie sich etwa einen Meter in der Luft halten können, wenn ihre Ranken ins Leere greifen. Hier hat es ein Exemplar fast geschafft, die Kluft zwischen zwei Reihen zu überwinden - was die Winzer sicher bald unterbinden werden:
Auch viele Kürbisgewächse zählen zu den Rankpflanzen, etwa diese Explodiergurke (im botanischen Garten von Wien als Explosionsfrucht bezeichnet). Ihr Schatten auf dem Schild zeigt sowohl fast gerade als auch locker oder eng zu einer Helix aufgewundene Ranken.
Hier sieht man neben einer jungen Frucht eine Ranke mit einer "Umschaltstelle", wie sie die Älteren unter uns vielleicht noch von Telefonhörerschnüren kennen: Um Spannungen im Gewebe abzubauen, die nach der Verankerung der Rankenspitze am Klettergerüst auftreten, wird aus einer linksgängigen eine rechtsgängige Schraube - oder umgekehrt:
Von den Rank- zu den Schlingpflanzen. Einige tragen ihre Wachstumsstrategie bereits im Namen, etwa die Ackerwinde. Hier eine der typischen rosa behauchten Blüten neben einer winzigen roten Blüte des Acker-Gauchheils:
Ihre "große Schwester", die Zaunwinde, hat dagegen größere, rein weiße Blüten. Hier haben sich Zaunwinden aus einem benachbarten Komposthaufen über Johannisbeer-Sträucher hergemacht:
Schlingpflanzen winden ihre Sprosse um die festeren Sprosse anderer Pflanzen - wieder mit dem Ziel, mit möglichst geringem Energieaufwand möglichst schnell ans Licht zu gelangen, wo sie dann gegenüber den anderen Pflanzen einen Konkurrenzvorteil haben. Hier erhebt sich eine Zaunwinde über die Buchsbaumhecke, an der sie sich abgestützt hat:
Und hier ist es wieder ein Johannisbeerstrauch, um den sie sich in einer rechtsgängigen Schraube herumgewunden hat. Der Drehsinn ist genetisch festgelegt. Viele, aber nicht alle Schlingpflanzen winden sich rechtsgängig; die Sprossspitze geht also im Uhrzeigersinn um ihre Kletterhilfe herum:
Die Sprossachsen sind zwar nicht verholzt und recht dünn, aber sie sind stabil genug, um Lücken von etwa einem halben Meter zu überwinden und so auf Nachbarpflanzen überzuspringen:
Was aber, wenn der nächste Nachbar weiter entfernt ist? Auch dann ist nicht aller Tage Abend: Die vielen Sprossspitzen der Zaunwinde winden sich mangels Alternative umeinander und bilden so Seile oder Kabel, die stabiler sind als die einzelnen Sprossachsen. So erhöhen sie gemeinsam ihren Suchradius:
Auch die Arten aus der Familie der Mondsamengewächse sind Schlingpflanzen. Hier winden sich zahlreiche Sprosse der in China beheimateten Art Sinomenium acutum um eine künstliche Kletterhilfe. Im Unterschied zu den Zaunwinden sind diese Sprosse dicht behaart:
Ebenfalls rechtsgängig ist die Helix eines Verwandten, des Amerikanischen Mondsamens, der sich hier über die Gerüstspitze hinausschwingt - wieder stabilisiert durch die Verdrillung zweier Sprosse:
Der ebenfalls verwandte Asiatische Kokkelstrauch zeigt wieder die typische Behaarung. Die Härchen sind wie Widerhaken leicht nach hinten gekrümmt, was die Chance erhöht, sich an einem Objekt zu verankern:
Zum Abschluss noch eine Feuerbohne, in Österreich Käferbohne genannt: Mit ihren hübschen roten Blüten strebt diese Sprossspitze - ebenfalls rechtsdrehend, ebenfalls um sich selbst gewunden - Höherem zu.
Da wird sie allerdings nichts finden. Aber das macht nichts, solange wenigstens ein paar der anderen Sprossspitzen irgendwo Halt finden. Und dafür werden die Gärtner des Botanischen Gartens von Wien schon sorgen.