Muster- und Strukturenratebild, Mai 2010
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Die Frage lautete diesmal weniger "Was ist das?" als vielmehr "Warum machen die das?" Ja, warum legten diese Grasfrosch-Kaulquappen, die wir Anfang April an einem der ersten halbwegs warmen Tage in kleinen, flachen Tümpeln (eher großen Pfützen) im Nationalpark Eifel gesehen haben, kurz nach dem Schlüpfen ein so ausgeprägtes Aggregationsverhalten an den Tag? Etwa mir und meiner Muster-Lust zuliebe?
Wir waren verblüfft, schon so früh im Jahr so viele Laichballen zu sehen, aber der Grasfrosch wird im Volksmund nicht umsonst auch Märzfrosch genannt: Er ist früher dran als zum Beispiel der Teichfrosch. Das verschafft ihm einen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz, erhöht aber auch die Gefahr, einen Großteil der Brut durch späten Frost zu verlieren. Daraus ergibt sich gleich die erste Hypothese für die Zusammenrottung in Flecken, Ringen und anderen Formen: Vielleicht nutzen die Larven die noch spärliche Sonnenstrahlung im Verbund effektiver als einzeln? Hier ein größerer Ausschnitt des temporären Tümpels:
Man erkennt, dass Grasfrosch-Kaulquappen einen ausgeprägten Familiensinn haben: Auf jedem Laichballen bildet sich eine eigene Versammlung, die sich vermutlich aus Geschwistern zusammensetzt. Wenn die Aggregation irgendeinen Überlebensvorteil mit sich bringt, erscheint das evolutionsbiologisch sinnvoll: Der Fitnessvorteil soll möglichst den eigenen Verwandten bzw. den eigenen Genen zugutekommen. Allerdings haben wir auch eine Massenversammlung angetroffen, eine Art Kaulquappen-Ruhrgebiet, das sich offenbar aus mehreren Laichballen speist:
Wann beginnen die Larven, die Gesellschaft ihrer Artgenossen und Angehörigen zu suchen? Offenbar unmittelbar nach dem Schlüpfen, wie dieser jüngere Laichballen zeigt, in dem sich erst wenige Tiere aus ihrer Gallerthülle befreit haben, während die meisten noch reglose schwarze Kügelchen sind:
Dass die Larven eines Laichballens nicht alle zugleich schlüpfen, liegt unter anderem an der ungleichmäßigen Wärmezufuhr. Die Gallertkugeln wirken wie Brenngläser und lenken die Sonnenstrahlen zum Embryo hin. So bekommen die oberen Eier mehr Wärme ab als die unteren; allerdings laufen sie auch eher Gefahr, von hungrigen Tieren gefressen zu werden.
Die Neigung zum Kuscheln hält eine ganze Weile an. Auch diese Larven, die schon deutlich weiter entwickelt sind und ihren Laichballen längst verlassen haben, suchen noch Körperkontakt. Man beachte die gute erkennbaren Außenkiemen, die später – vor der Metamorphose, der Umwandlung zum Frosch – hinter einer Hautfalte verschwinden:
Auffällig ist der Ort dieser Versammlung: das Flachwasser am sonnenbeschienenen Rand des Tümpels, das sich morgens als Erstes aufheizt und eine Temperatur annimmt, die der weiteren Entwicklung der Larven förderlich ist. Vielleicht gibt es hier auch besonders viel zu fressen?
Nun zu den Ergebnissen meiner anschließenden Recherchen:
Wie heißt das Phänomen, und seit wann wird es erforscht? Der Amerikaner Arthur N. Bragg hat 1940 große Versammlungen der Kaulquappen des Südlichen Leopardfrosches (Rana sphenocephala) beobachtet und festgestellt, dass diese (1) vor allem in rasch verdunstenden Kleinstgewässern entstehen, (2) aktivere Kaulquappen enthalten als das Wasser ringsum und (3) die Entwicklung der Larven beschleunigen, sodass es früher zur Metamorphose kommt. Er nannte das Phänomen "social aggregation" und blieb seiner Erforschung (beinahe hätte ich "Erfroschung" geschrieben) noch viele Jahre treu. Eine deutsche Bezeichnung scheint es nicht zu geben, und eine wörtliche Übersetzung erscheint mir problematisch, da die Verhaltenskundler unter "Aggregationen" sonst Ansammlungen verstehen, die gerade nicht sozial bedingt sind.
Wie weit ist es verbreitet? Offenbar bilden die Kaulquappen sehr vieler Frosch- und Krötenarten in aller Welt (Afrika, Nord- und Südamerika, Europa, ...) unter bestimmten Umständen solche vibrierenden Klumpen.
Wie finden sich die Tiere? Die Kaulquappen folgen, wie zahlreiche Laborversuche ergeben haben, visuellen Reizen. Teils wurde der Testkaulquappe ihr eigenes Spiegelbild gezeigt, das sie für einen Artgenossen hielt; teils hat man die Bewegungen der Larven in Aquarien analysiert, die mit gläsernen Trennwänden unterteilt waren. Fast immer suchten die Tiere die Nähe der anderen, und offenbar spielt die linke Hälfte ihres Gesichtsfelds bei der Reaktion auf solche "sozialen Reize" eine größere Rolle als die rechte.
Wie erkennen sie ihre Geschwister? Forschungen an wilden sowie im Labor aufgezogenen Kaulquappen des Amerikanischen Kaskadenfroschs (Rana cascadae) und der südostasiatischen Schwarznarbenkröte (Bufo melanostictus) haben ergeben, dass sie anhand chemischer Reize (also des "Geruchs") erkennen, ob sie es mit einem Geschwister, einem Nichtgeschwister derselben Art oder aber einer Kaulquappe einer anderen Art zu tun haben. Der freien Natur entnommene Kaskadenfroschlarven bevorzugten, wenn man ihnen die Wahl ließ, die Gesellschaft anderer Kaulquappen aus ihrem eigenen Laichballen gegenüber Artgenossen aus einem benachbarten Laichballen aus demselben Tümpel. Die Krötenlarven suchten ebenfalls die Nähe ihrer Geschwister, bildeten aber zur Not lieber Aggregationen mit Nichtverwandten, als allein herumzuschwimmen. Wahrscheinlich ist die Erkennung des "Stallgeruchs" nicht erlernt, sondern angeboren: Auch Kaulquappen, die im Labor zunächst gemeinsam mit Nichtverwandten aufgezogen wurden, zogen später ihre Verwandten vor.
Warum bevorzugen sie ihre Geschwister? Vermutlich steigen mit der Zusammenballung die Überlebenschancen der Teilnehmer. In solchen Fällen sagt die Evolutionstheorie bzw. die Theorie des egoistischen Gens vorher, dass der kleine Vorteil, den jede einzelne Kaulquappe durch ihr Mitmachen beisteuert, möglichst nahen Verwandten zugute kommen sollte, die viele Gene mit ihnen gemeinsam haben.
Worin besteht der Überlebensvorteil der Geschwistererkennung? Beobachtungen und Versuche am Kaskadenfrosch deuten darauf hin, dass die "Schwarmbildung" den Zugang zur Nahrung und damit das Wachstum der Kaulquappen beeinflussen kann: In gemischten Schwärmen verkümmerten mehr Kaulquappen als in reinen Geschwister-Schwärmen. Die Gesellschaft der Geschwister könnte also die Entwicklung beschleunigen oder synchronisieren und die Zeit bis zur Metamorphose verkürzen. Allerdings gibt es auch fleischfressende Kaulquappen, bei denen die Verwandtenerkennung eher dazu dienen könnte, die Geschwister nicht zu verspeisen.
Dient die Zusammenballung der Fressfeind-Meidung? Einer anderen Hypothese zufolge verringert die einzelne Kaulquappe das Risiko, von einem Fisch, einem Egel oder einem anderen Fressfeind verspeist zu werden, indem sie sich in die amorphe, braunschwarze Masse ihrer Artgenossen hineinbegibt. Viele Forscherteams haben dies zu belegen versucht. Die Larven der auch bei uns heimischen Erdkröte (Bufo bufo) schlossen sich im Labor viel enger zusammen, sobald man "Fischgeruch" ins Wasser gab. Raubfische, die in dasselbe Becken gesetzt, aber durch ein Netz o. ä. am Verschlingen der Kaulquappen gehindert wurden, schnappten zwar umso öfter nach einer Kaulquappengruppe, je größer diese war, aber die Schnapprate pro Kaulquappe sank dennoch mit der Versammlungsgröße. Dies passt zur Theorie der "egoistischen Herde".
Marko Spieler erforscht "social aggregations" von Kröten- und Froschlarven in der Savannenlandschaft der Elfenbeinküste, in deren Gewässern die Kaulquappen einem hohen Feinddruck durch große Raubfische ausgesetzt sind. Hier bilden sie ihre riesigen Versammlungen bevorzugt im Flachwasser, in das die großen Fische nicht hineinschwimmen können. Offenbar "riechen" sie ihre Feinde nicht nur, sondern reagieren auch auf rasche Wasserströmung, die für einen vorschnellenden Raubfisch typisch ist. Allerdings besteht am Rand auch eher die Gefahr der Austrocknung, und die Larven finden weniger Nahrung, sodass sie langsamer wachsen. Je klarer das Wasser, desto größer und dichter sind auch die Kaulquappenversammlungen – wohl da ihre Feinde bei guter Sicht mehr jagen. Bei anderen Froschlurcharten scheint die Hauptstrategie gegen das Gefressenwerden allerdings nicht in der Aggregation, sondern in Passivität zu bestehen: Bloß nicht auffallen ...
Welche Umweltfaktoren können die Aggregation beeinflussen? Der bevorzugte Aufenthaltsort und das Sozialverhalten von Kaulquappen können unter anderem von der Nahrungsmenge und -verteilung im Tümpel, den Temperatur- und Lichtverhältnissen im Wasser und der Gegenwart von Feinden und Verwandten abhängen. Das Verhalten vieler Kaulquappen ändert sich im Tagesverlauf: Die kühle, dunkle Nacht verbringen sie einzeln und passiv vor allem im tieferen Wasser, das nicht so schnell auskühlt; morgens schwimmen sie in die flachen Randzonen hinein, die sich rasch aufwärmen; am Mittag und Nachmittag beobachtet man die meisten Aggregationen, und zwar vor allem in den warmen Oberflächenschichten. Offenbar schwimmen die Larven einzeln den Temperaturgradienten hinauf, bis sich so viele in den warmen Schichten versammelt haben, dass sie Aggregationen bilden können. Das Verhalten ist lichtabhängig: An trüben Tagen bilden sich weniger Versammlungen, und wenn man eine Aggregation beschattet, löst sie sich auf. Bei Laubfrösche (Gattung Hyla) wurde beobachtet, dass in den Versammlungen im wärmsten Teil des Tümpels drei Viertel der Kaulquappen ihre Schwänze in Richtung der Sonne halten, sodass sie die Absorption der Sonnenstrahlen maximieren. Aggregationen scheinen sich schneller aufzuwärmen als einzelne Tiere.
Fazit: Das Sozialverhalten der Froschlurchlarven hängt so stark von der jeweiligen Art und ihren Lebensumständen ab, dass sich diese Forschungsergebnisse nicht ohne Weiteres auf unsere Grasfroschlarven in der Eifel übertragen lassen. Für mich deutet aber einiges darauf hin, dass die Kaulquappen sich zusammentun, um die schwache Frühjahrssonne möglichst gut zu nutzen und damit ihr Wachstum zu beschleunigen, damit sie sich in Frösche verwandeln können, bevor die Tümpelchen austrocknen. Einen Feinddruck durch Raubfische kann man in diesen Pfützen ausschließen, aber die großen Schafherden, mit denen die Ginsterheide und die Wiesen im Nationalpark kurz gehalten werden, könnte man durchaus als Feinde der Kaulquappen bezeichnen: