Mitte November hatte ich Gelegenheit, mir den im September eröffneten Ostflügel des Museums für Naturkunde in Berlin anzusehen. Auf den ersten Blick schien eine Enttäuschung vorprogrammiert, denn das Publikum hat nur zu einem einzigen Saal des im Krieg zerstörten und seit 2006 wieder aufgebauten Flügels Zugang, in dem es zudem ungemütlich kühl und etwas düster ist und man ohne weitere Erläuterungen mit den Exponaten allein gelassen wird. Doch das Gegenteil war der Fall: Ich bin dem spröden Charme dieser Antididaktik restlos erlegen.
Durch eine Klimaschleuse betritt man eine Halle, in die eine zweite, kleinere Halle mit gläserner Fassade hineingebaut wurde. Diesen inneren Raum, der sich durch robuste Hochregale, Industrieboden, kühles Licht, Rollwagen und Leitern klar als Teil einer wissenschaftlichen Sammlung zu erkennen gibt und keine ästhetischen Konzessionen an seine Betrachter macht, darf man nicht betreten. Das Einzige, was hier möglich und erlaubt ist: im Gang zwischen der violettrot gestrichenen äußeren Wand und der Glaswand um die Sammlung herumschreiten, in deren Regalen Abertausende zumeist zylindrischer Glasgefäße mit in Alkohol konservierten Fischen stehen.
Und das habe nicht nur ich mit wachsender Faszination getan: Auch die übrigen Besucher, Kinder wie Erwachsene, haben sich in einer Mischung aus Befremden und Begeisterung die Nasen an den Scheiben plattgedrückt. Während uns in den übrigen Abteilungen des Museums zahlreiche Schrifttafeln und Monitore über das Gezeigte aufklären, die Exponate in einen Kontext stellen und uns leicht verständliche Take-home-Messages servieren, bleibt die Nasssammlung stumm. (Fast hätte ich geschrieben: stumm wie die Fische, aber einige der Tiere scheinen uns mit weit aufgerissenem Maul geradezu anzuschreien.) Gerade durch diese vorgebliche Kommunikationsverweigerung belehrt sie uns unmissverständlich über eine der wichtigsten Aufgaben von Naturkundemuseen: Sie dienen nicht nur der Volksbildung und -belustigung, sondern sind auch Archive – unentbehrliches Fundament der Arbeit vieler Naturwissenschaftler, die sich anhand der hier eingelagerten Exemplare über ihre Forschungsgegenstände verständigen.
Das muss der Besucher gar nicht en détail verstehen: Wenn er begreift, dass er bei seinen bisherigen Besuchen im Museum für Naturkunde stets nur die Spitze des Eisbergs gesehen hat, und wenn er zudem die eine oder andere Einzelheit entdeckt, die ihn ästhetisch anspricht (ihn beispielsweise an die Werke von H. R. Giger erinnert) oder über die Funktion eines Organs oder eine ökologische Anpassung nachgrübeln lässt, dann hat der Ostflügel seinen doppelten Zweck schon erfüllt.
Und jetzt: Manege frei – hätte ich doch eine bessere Kamera dabei gehabt!
Weiterlesen im Netz:
- Reinhold Leinfelder, Generaldirektor des Museums, berichtete im September in seinem Blog Ach Du lieber Darwin! vom Neubau des Ostflügels.
- Eine alte Fassung der Broschüre über den Wiederaufbau, 2006 zum Baubeginn herausgegeben, steht als PDF zum Download bereit.
- In der NZZ würdigte Jürgen Tietz am 22.10.2010 die Architektur des wiederaufgebauten Flügels, für die das Büro Diener & Diener aus Basel verantwortlich zeichnet.