Wir treten einen Schritt zurück:
Es ist eine Glasscheibe gegen die Sonne fotografiert. Aber was sind das für fingrige Blattstrukturen? Man denkt gleich an Eisblumen, aber dafür war es viel zu warm. Aufgenommen habe ich die Bilder am 20. April in Wien am U-Bahnhof Kaisermühlen:
An mehreren der Fenster hatten sich diese Muster gebildet:
Eigentlich müsste man zur genaueren Untersuchung diese Scheiben auseinandernehmen, von allen Seiten betrachten und vielleicht auch mal mit einem Geologenhammer zerkleinern. Aber bei aller wissenschaftlichen Neugierde wollte ich das in einem öffentlichen U-Bahnhof zu Zeiten höchster Terrorwarnstufe dann lieber doch nicht tun, sodass ich bei der Erklärung wieder auf Spekulationen angewiesen bin.
Das Fingerblumenmuster befand sich nicht auf der Oberfläche der Fensterscheiben, sondern in ihrem Inneren. Wie kann das sein? Verbund-Sicherheitsglas besteht aus zwei (oder mehreren) einzelnen Glasscheiben, zwischen denen sich eine reißfeste und zähelastische Folie befindet; bei der Herstellung wird der Kunststoff unter hohem Druck durch Erhitzen fest mit dem Glas verbunden. Dies dient dazu, dass Scherben nicht in der Gegend herumfliegen und Leute verletzen, wenn eine solche Scheibe zu Bruch geht, sondern durch die Folie zusammengehalten werden.
Bei den betroffenen Fenstern haben sich offensichtlich vom Rand her die Schichten etwas voneinander getrennt und Wasser ist durch Löcher in der Gummidichtung zwischen Glasschicht und die Kunststofffolie eingedrungen. Die Fingerstrukturen stellen also so etwas wie Wasserblasen dar. Offensichtlich hat die Folie dabei auch etwas Wasser aufgenommen, sodass sie an diesen Stellen milchig-trüb wurde. Wenn man genau hinsieht, erkennt man auch um die eigentlichen Finger herum einen weißlichen Saum:
Hier liegt die Folie wohl noch am Glas an, aber es dürfte ein wenig Feuchtigkeit aus den Blasen (also den Fingerstrukturen) in den umgebende Kunststoff diffundiert sein und ihn ein wenig eingetrübt haben. An einer anderen Stelle finden sich ähnliche Blasenstrukturen, die aber farblos sind:
Hier haben sich wohl in der Mitte einer Scheibe die verschiedenen Schichten voneinander gelöst; aber da es keine Verbindung zum Rand oder andere Öffnungen gibt, ist wohl kein Wasser und damit keine Trübung vorhanden.
Im letzten Bild erkennt man diesen Ring schwach im oberen mittleren Bereich der Scheibe.
Wieso sind aber verzweigte finger- und blattartige Strukturen, sogenannte Dendriten, entstanden? Würde man nicht einfach eine runde Blase erwarten? Auch wenn man z. B. eine einen Löffel Honig oder Öl auf einem Teller zerfließen lässt, breitet sich die Flüssigkeit einfach als runder Fleck mit einer geschlossenen, glatten Front aus.
Dendriten erhält man jedoch bei einem einfachen Experiment, das unserer Situation sehr ähnelt: Man legt zwei Glasplatten aufeinander, zwischen denen sich eine zähflüssige (viskose) Substanz befindet. Wenn man dann an einer Stelle eine dünnflüssige Flüssigkeit einlaufen lässt, entstehen ähnliche Dendriten, wie man z.B. in diesem Video sieht:
Dieses Phänomen ist als "viskose Fingerbildung" (engl. "viscous fingering") oder Saffman-Taylor-Instabilität bekannt, benannt nach den Mathematikern Philip Saffman und Geoffrey Taylor, die den Effekt 1958 mathematisch beschrieben. Diese Instabilität spielt in der Technik z. B. bei der Ölförderung eine Rolle, wo zähflüssiges Öl durch eingepumptes Wasser aus engen Gesteinsspalten herausgedrückt werden soll.
Generell enstehen Dendriten dann, wenn in einem dynamischen System ein physikalischer Grund vorhanden ist, der eine Struktur an ihrer Spitze stärker wachsen lässt als an ihren Seiten. Wenn die Front der eindringenden Flüssigkeitsblase also an einer Stelle durch zufällige Unregelmäßigkeiten etwas weiter vordringt, dann wächst diese Ausstülpung immer weiter, während der Rest der Front zurück bleibt, und es entsteht ein langgestreckter "Finger".
Bei der Saffman-Taylor-Instabilität spielt für dieses Spitzenwachstum die Oberflächenspannung eine Rolle, die durch den Zusammenhalt der Flüssigkeitsmoleküle entsteht. Dies ist leider recht unintuitiv und nur mathematisch wirklich zu verstehen, aber man kann sich das ungefähr folgendermassen vorstellen. Betrachten wir zunächst der Einfachheit halber eine Gasblase in einer Flüssigkeit. Die Oberflächenspannung führt u.a. dazu, dass auf gekrümmte Flüssigkeitsoberflächen Kräfte wirken, die die Krümmung zu verringern suchen, daher ist der Druck im Inneren der Blase größer ist als in der umgebenden Flüssigkeit. Mathematisch lässt sich zeigen, dass der Druckunterschied umso größer ist, je stärker gekrümmt die Wand der Blase ist. Was bedeutet das nun bei einer fingerförmigen Blase? An den Seiten des Fingers ist die Wand ziemlich gerade und wenig gekrümmt, hier ist der Druckunterschied daher gering. An der Spitze jedoch ist die Grenzschicht sehr stark gekrümmt und der Druckunterschied zwischen innen und außen groß. Das bedeutet, dass die fingerförmige Blase nur an ihrer Spitze, aber nicht an den Seiten, einen Druck auf die umgebende Flüssigkeit ausübt; an der Spitze drängt sie also die Flüssigkeit stärker zurück als an den Flanken und wächst dadurch. Dasselbe passiert, wenn die Blase statt aus Gas aus einer Flüssigkeit besteht, die in eine viskosere (zähflüssigere) Substanz eindringt.
Für Detailversessene: Genau gesagt handelt es sich bei unserem Sicherheitsglas nicht um eine klassische Saffman-Taylor-Instabilität: Das Wasser verdrängt nicht eine viskose Substanz im Spalt, sondern löst eine Folie vom Glas ab. Allerdings sind die Kräfte, die das Ablösen der Folie vom Glas verhindern, vergleichbar mit den Kräften einer sehr viskosen Substanz.
Seltsamerweise schien außer mir niemand anderes die Strukturen im Glas zu beachten, auch nicht die, die eigentlich ein professionelles Interesse haben sollten: die etwa 13.000 Geowissenschaftler, die auf dem Weg zur Jahresversammlung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union (EGU) waren:
Ich war dort an einem Konferenzabschnitt über Treibhausgasemissionen beteiligt, in dem Kollegen aus der ganzen Welt in Vorträgen und mit Postern ihre Erkenntnisse austauschten: