Dank Dauerregen bin ich wieder einmal zu einer meiner Indoor-Expeditionen aufgebrochen. Die führen mich seltsamerweise meistens in die Küche ...
Hier das Rätselobjekt noch einmal aus anderer Perspektive. Man erkennt drei Schichten:
Die eine ist hellbraun und gestreift, die nächste weißlich und faltig, die dritte sattbraun und relativ glatt. Hier das Objekt in Gänze:
Es ist eine Scheibe aus einer Tüte mit getrockneten Steinpilzen. Vermutlich hat mich die "Pilzverrücktheit" der Autorin und Schmuckgestalterin Petra von Cronenburg auf die Idee gebracht, mir diese Strukturen genauer anzusehen. Was es mit der Streifenschicht auf sich hat, dürfte inzwischen klar sein: Die Steinpilze zählen zu den Dickröhrlingen; ihre Sporen haften nicht an Lamellen wie beim Champignon oder Pfifferling, sondern in Röhren.
Mich interessiert diesmal, wie sich Lebensmittel beim Trocknen verformen. Der Wasserverlust führt zu Spannungen im Objekt, und oft gibt die Struktur des Gewebes vor, in welcher Richtung es sich deformiert, um diese Zugspannung zu minimieren. Meistens führt das Trocknen zu einer Schrumpfung. Es gibt Ausnahmen; man denke an eine feuchte Baumwollsamenkapsel: Das Wasser hält die Fasern durch Kapillarkräfte zusammen; sein Verlust führt zu einer Ausdehnung. In meiner Küche fanden sich aber nur Objekte, die beim Trocknen tatsächlich verschrumpelt waren - aber nicht alle auf dieselbe Weise.
Die Zellwände von Pilzen bestehen größtenteils aus Chitin, genau wie Insektenpanzer. Und wie beim Insekt ist dieses Polysaccharid auch beim Pilz sehr fest, nicht wasserlöslich, elastisch, aber kaum plastisch (also dauerhaft) verformbar. Die Röhren des Steinpilzes werden daher beim Trocknen nur wenig kürzer. Stattdessen kollabieren sie, d. h. ihr Querschnitt bleibt nicht rund, sodass sie weniger Raum einnehmen als im frischen Zustand:
Die mittlere Schicht, das Marshmallow-artige "Fleisch" des Steinpilzes, fällt beim Trocknen ebenfalls etwas zusammen, weil die Flüssigkeit aus dem Inneren der Zellen entweicht. Die Furchen folgen dabei zum Teil der äußeren Gestalt, verlaufen also an den Rändern des Huts überwiegend parallel zur Oberfläche. In der Mitte aber entstehen unregelmäßige Polygone.
Die oberste Schicht, die Haut des Pilzhuts, ist so robust, dass sie kaum schrumpft. Stattdessen schlägt sie Wellen, um mit dem Schrumpfen des Fleischs mitzuhalten.
An dieser Scheibe eines älteren, wurmstichigen Steinpilzes sieht man außerdem, dass die Schrumpfungsfalten im Stiel größtenteils parallel zur Hauptachse des Stiels verlaufen. Aufgrund der Struktur des Gewebes, das hier überwiegend aus längs verlaufenden Zellschläuchen (sogenannten Hyphen) besteht, ist der Stiel quer stärker geschrumpft als in Längsrichtung:
Andere Lebensmittel enthalten frisch viel mehr Wasser als Steinpilze und schrumpeln entsprechend dramatischer - etwa diese Korinthen:
Zugegeben, der Vergleich mit den grünen Tafeltrauben ist nicht ganz fair, denn diese wurden auf ein besonderes großes Volumen hin gezüchtet ...
Auch Aprikosen schrumpeln beim Trocknen - und haben dann oft in der Mitte eine Vertiefung, da der große Kern fehlt:
Rings um den Stielansatz verlaufen die meisten Falten sternförmig; ansonsten herrschen Längsfalten vor: Die Aprikose ist in Querrichtung stärker geschrumpft (und hat die Oberfläche daher stärker gezwungen, sich zu wellen) als in Längsrichtung.
Weiter geht es mit getrockneten Tomaten, die aus der Nähe wie kleine Kunstwerke aussehen:
Ihre feste, wachsige Haut enthielt auch frisch kaum Wasser und kann sich nicht zusammenziehen. Sie haftet aber am wasserreichen Fruchtfleisch, das sehr stark schrumpft, und muss daher eine ganze Menge Falten werfen, um die Spannungen zwischen Fleisch und Schale zu verringern.
Viele Tomatenstücke krümmen sich wegen der stärkeren Schrumpfung des Fruchtfleischs zu Objekten zusammen, die auch in einem VHS-Kurs "Kreatives Töpfern zum Aggressionsabbau" entstanden sein könnten:
Manche scheinen direkt einem von HR Giger gestalteten Filmset oder einer anatomischen Sammlung entsprungen zu sein. Kein Wunder, dass man von "Fruchtfleisch" spricht:
Weniger gruselig sehen diese schwarzen Pfefferkörner aus:
Im Unterschied zu weißem Pfeffer, den vom Fruchtfleisch befreiten Kernen der Früchte des Pfefferstrauchs, besteht schwarzer Pfeffer aus den ganzen Früchten, die nach der Ernte zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet werden. Dabei schrumpft der harte, wasserarme Kern kaum, während das feuchte Fruchtfleisch stark zusammenfällt. Da die Schale der Frucht dicke, wasserarme Zellwände hat, bleibt ihre Fläche dabei fast konstant. Dadurch treten wiederum Spannungen zwischen Schale und Frucht auf, die durch Faltenwurf reduziert werden. Eine klare Vorzugsrichtung gibt es dabei nicht, und so entstehen unregelmäßige Polygone.
Aber halt: Wer hat sich denn hier ins Bild gemogelt?
Links sehen wir nicht etwa rotes Pfefferkorn, sondern eine Kapsel des sogenannten Szechuanpfeffers, der in der asiatischen Küche beliebt ist. Die Pflanze ist nicht mit dem Pfefferstrauch verwandt, sondern gehört zu den Seifenbaumartigen. Die Warzen auf den Samenkapseln kommen nicht erst durch die Trocknung zustande, sondern sind schon auf den frischen Früchten zu sehen. Der eher prickelnde als scharfe Geschmack stammt aus den Samenkapseln; es macht also nichts, wenn die schwarzen Samen herausfallen:
Wir halten fest: Ungefähr kugelförmige Objekte mit harter, wasserarmer Schale und darunter liegendem, wasserhaltigem Fruchtfleisch bilden beim Trocknen Runzeln aus. Aber wie werden sehr dünne, runde Scheiben die Spannung los, wenn ihr Inneres stärker schrumpft als ihr fester Rand? Das wollte ich eigentlich an einigen dünnen Baguette-Scheiben zeigen, aber bei 100 Prozent Luftfeuchtigkeit wollten sie sich einfach nicht wölben. Also musste ich auf Chips ausweichen:
Oftmals krümmt sich eine trocknende Scheibe zunächst in eine Richtung, um die größte Spannung zu verringern. Danach ist die Spannung im rechten Winkel zur bis dahin größten Zugspannung am stärksten. Um die Gesamtspannung zu minimieren, krümmt sich die Scheibe nun in die andere Richtung, sodass eine Sattelfläche entsteht, eine sogenannte Minimalfläche.
Dieses Verhalten ist typisch für schrumpfende dünne Schichten aus einem Material, das in alle Richtungen ähnlich strukturiert ist - wie etwa Kartoffelscheiben. Anders sieht es aus, wenn die dünne Schicht aus Zellen mit einer Vorzugsrichtung besteht und außerdem an der einen Seite (meist der ehemaligen Innenseite) feuchter ist und daher stärker schrumpft als an der anderen (der ehemaligen Außenseite). Dann nämlich rollt sich die Schicht zusammen und bildet eine Stange. Auch dafür findet sich in jeder gut sortierten Küche ein Paradebeispiel: die getrocknete Rinde des Zimtbaums.
Die Zimtstange und die Pilze habe ich zurückgeräumt, die Pfefferkörner weggeworfen - und meine übrigen Fotomodelle im Lauf des Abends vertilgt, genau wie den gesamten Inhalt der Chipstpüte. Dieser Dauerregen regt den Appetit an.