Muster- und Strukturenratebild, Dezember 2009

Stärkepolygone

(Zur Auflösung und Erklärung bitte weiterlesen.)

Ja, der Winter steht vor der Tür. Ja, das Polareis schmilzt. Aber nein, dies sind keine Eisschollen oder Gletscherreste. Vielmehr handelt es sich um einen getrockneten "Schlamm" aus Maisstärke und Wasser.

Die Polygone haben einen mittleren Durchmesser von etwa drei Millimetern:

Stärkepolygone mit Maßstab

Wer solche polygonalen Stärkesäulen nachbauen will, mische handelsübliche Speisestärke und Leitungswasser ungefähr im Verhältnis eins zu eins, bis er oder sie eine zähe "Pampe" erhält. Mit einer solchen Stärkesuspension lassen sich allerhand lustige Versuche anstellen, denn es handelt sich um ein sogenanntes nichtnewtonsches Fluid: Man kann mühelos langsam seinen Finger darin versenken; schlägt man aber mit dem Hammer auf die Oberfläche, so prallt er ab. (Für verschmutzte Küchen, weiß gesprenkelte Kleidung und schimpfende Mitbewohner übernehmen wir keine Haftung!) 

Zutaten für Stärkepolygone

Hier geht es uns aber nicht um solche Spielereien, die z. B. bei YouTube zu bewundern sind, sondern um das Verhalten der Mischung beim Eintrocknen. Daher füllen wir sie etwa drei bis vier Zentimeter hoch in transparente Gefäße wie kleine Vorratsdosen aus Kunststoff, die wir dann ohne Deckel für einige Tage dicht unter eine heiße Lampe stellen.

Zunächst setzen sich die Stärkekörner ab; an der Oberfläche sammelt sich eine klare oder leicht gelbliche Flüssigkeit, die allmählich verdunstet. Sobald die Oberfläche trocken liegt, bilden sich an ihr unregelmäßige Risse, wie wir sie aus Schlammpfützen oder von gesprungener Glasur kennen. Jetzt ist Geduld gefragt, denn viel interessanter als diese sog. "mud cracks" sind die tiefen Risse, die zur Säulenbildung führen, und diese wachsen ganz langsam von der Oberfläche in die Tiefe. Unterdessen kann sich an der Oberfläche etwas Schimmel bilden – den Versuchsaufbau also bitte vor dem Zugriff neugieriger oder naschsüchtiger Kinder, Haustiere und Lebensgefährten schützen (und umgekehrt).

Nach etwa drei Tagen – bzw. sobald sich an der Unterseite des transparenten Gefäßes Muster zeigen – löst man den eingetrockneten Stärkeblock vorsichtig aus dem Gefäß und stellt ihn auf den Kopf. Der Anblick sollte in etwa unserem Rätselbild gleichen.

Vom Rand her kann man vorsichtig einzelne Säulen aus dem Block herauslösen. Oft haben sie ein unregelmäßig geformtes dickes und ein regelmäßig geformtes dünnes Ende; gelegentlich sind sie zum dünnen Ende hin rhythmisch gezackt oder gesägt:

Stärkesäulen von der Seite

Die Flächen am ehemals unteren Ende sind häufig Fünf- oder Sechsecke (Pentagone oder Hexagone):

Stärkesäulen von unten

Wie kommen diese Muster zustande, und warum interessiert sich die Wissenschaft für sie?

Stärkekörner sind rundlich und porös; in einer Stärkesuspension dringt also das Wasser sowohl in die Hohlräume zwischen den Körnchen als auch in die Körnchen selbst ein. Die Stärke quillt etwas auf; benachbarte Körnchen berühren und verformen sich ein wenig. Beim anschließenden Trocknen lassen sich drei Phasen unterscheiden:

Als Erstes verdunstet einfach der wässrige Überstand. Zurück bleibt eine feste, aber immer noch mit Wasser gesättigte Mischung, die weiter eintrocknet, wobei das Wasser aus dem Inneren des Blocks durch Kapillarkräfte an die Oberfläche gesaugt wird und dort verdunstet. Der Block schrumpft; erste, noch ganz unregelmäßige Risse tun sich auf.  Die kapillaren Wasserfäden reißen ab; von nun an kann das Restwasser nicht mehr als Flüssigkeit an die Oberfläche steigen, sondern nur noch als Dampf durch die Risse diffundieren, die immer tiefer ins Innere vordringen. Diese Rissfront ist ziemlich schmal und wandert gleichförmig und wegen der Porosität der Stärke sehr langsam von der Oberfläche in Richtung Boden.

In dem schrumpfenden Stärkeblock hängen die benachbarten Körner aneinander fest; so treten Spannungen auf, die sich in Form von Rissen lösen. Dem Prinzip der Energieminimierung folgend, ordnen sich diese oben dem Zufall gehorchenden Risse nach unten allmählich regelmäßiger an; 120-Grad-Winkel werden bevorzugt. So entstehen nach und nach ungefähr gleich große Polygone. Ihr Durchmesser entspricht etwa der Tiefe der Trocknungsfront, die ebenfalls wenige Millimeter dick ist.

Ganz ähnliche Polygone kommen im sogenannten Säulenbasalt vor. Die wohl berühmteste Formation ist der "Giant's Causeway" in Nordirland, aber auch in der Eifel und überhaupt in vielen ehemaligen Vulkangebieten trifft man ab und zu auf solche natürlichen Pflasterungen. In diesem ehemaligen Steinbruch hat jemand einige der Polygone angebohrt; die bleiche Hand der Autorin dient als Maßstab:

Basaltpolygone mit Maßstab

Die Spannung in einer eintrocknenden Suspension poröser Stärkekörner entwickelt sich mit der Zeit und der Tiefe ganz ähnlich wie in Magma, das allmählich auskühlt und von einer zähen Flüssigkeit zu einem Festkörper wird. Sogar statistische Eigenschaften wie die Verteilung der Polygonflächen oder ihrer Kantenzahlen ähneln sich sehr, sodass Geowissenschaftler gerne mit Stärke experimentieren, um sich das Verhalten von erkaltendem Magma zu erklären. 

Zum Abschluss noch ein Bild einer Säulenbasaltformation, die zwar nicht so berühmt, aber fast ebenso spektakulär ist wie der irische "Damm des Riesen". Diesen Küstenabschnitt der Kanareninsel La Gomera betrachtet man am besten vom Schiff aus:

Basaltsäulen, La Gomera

Literatur

Wer sich für die physikalischen Details der Stärke- und Basaltsäulenbildung interessiert, sei auf die englischsprachige Website von Lucas Goehring verwiesen.