Muster- und Strukturenratebild, Oktober 2011

Ratebild Oktober 2011

(Zur Erklärung bitte weiterlesen.)

So ganz ohne Maßstab sind flächendeckende Linienmuster schwer einzuordnen, und die Falschfarben wecken oder verstärken den Eindruck, auf Vegetation zu blicken – entweder auf die Nahaufnahme eines Blattadermusters oder auf die Luftaufnahme eines landwirtschaftlichen Gebiets, in dem die Flurbereinigung noch nicht zugeschlagen hat. Auf den zweiten Blick wird allerdings klar, dass Blattader-Netzwerke meist andere Stukturen haben. Hier ein Ausschnitt aus einem Weinblatt; an Ahr und Mosel hat ja gerade die Weinlese begonnen:

Blattadern

Man erkennt deutlich die Haupt- und Nebenadern. In den kleinen grünen Feldern scheint es eine Menge "Sackgassen" zu geben, anders als in unserem Ratebild. Sackgassen entdecken wir auch in diesem Ausschnitt aus einer alten Karte von Konstantinopel (Istanbul):

alte Karte von Istanbul

Im Rätselbild sind zwar ebenfalls lange "Hauptstraßen" uns kürzere "Seitenstraßen" zu sehen, aber Sackgassen gibt es kaum. Die meisten Linien stoßen in etwa im rechten Winkel aufeinander, aber abseits der "Hauptstraßen" krümmen sie sich hier und da.

Tatsächlich handelt es sich um Risse in der verwitterten Beschichtung eines Schildes in der Toskana, das auf eine Carabinieri-Station hinweist:

Schild in der Toskana

Form, Anordnung, Tiefe und Breite von Oberflächenrissen hängen von etlichen Parametern ab, zum Beispiel von der Festigkeit, mit der die Oberflächenschicht an ihrem Untergrund haftet, von der Stärke der parallel und senkrecht zur Oberfläche waltenden Kräfte und von der Materialbeschaffenheit. So finden wir in trocknenden Schlammpfützen selten rechte Winkel; mehr oder weniger unregelmäßige Polygone mit einer mittleren Kantenzahl > 4 sind die Regel:

eingetrocknete Pfütze

Die Risse selbst sind unregelmäßig gezackt, vor allem, wenn das Material körnig ist:

eintrocknende Pfütze

Die Beschichtung des Carabinieri-Schildes ist homogener; die Risse sind daher glatter – ähnlich wie Craqueléauf alter Keramik. Sobald die ständige Einwirkung von Sonnenlicht, Regen, Wind und anderen Faktoren die parallel zur Oberfläche verlaufende Zugspannung in einer mehr oder weniger zufälligen Richtung so groß werden lässt, dass die Schicht reißt, setzt sich dieser Riss weit in beide Richtungen fort. Dadurch entspannt sich das Material in der Nachbarschaft des Risses, und zwar vor allem senkrecht zum Riss. Die größten verbleibenden Kräftevektoren verlaufen dort nun parallel zum Riss und sorgen dafür, dass der nächste Riss senkrecht auf seinen Vorgänger stößt. Je weiter wir uns von einem Riss erster Ordnung ("Hauptstraße") entfernen, desto kleiner wird diese Richtungsabhängigkeit oder Anisotropie der Kräfte in der Oberfläche, und desto leichter kann ein weiterer Riss allmählich seine Richtung wechseln – immer in etwa senkrecht zur lokal vorherrschenden Spannungsrichtung, sodass er die Oberfläche maximal entspannt, ihre potenzielle Energie also minimiert. Oben links im Rätselbild erkennt man mehrere Risse höherer Ordnung, die kurz vor Erreichen eines großen Risses abbiegen, um dann im rechten Winkel auf ihn zu treffen.