Poröses Eis mit Mikrostrukturen, die an Fingerabdrücke erinnern ...
... aufgenommen im August auf dem grönländischen Inlandeis, in der Nähe von Kangerlussuaq. Wer meint, es könne keine eintönigere Landschaft geben als einen Eisschild, der irrt. Wind, Schnee, Schmelzwasser, Sedimente, Algen, die ewigen (nein: leider doch nicht ewigen) Zyklen von Frost- und Tauwetter - all diese Kräfte formen eine Welt voller bezaubernder Muster, Strukturen und Gebilde in allen Größenordnungen, die das menschliche Auge erfassen kann:
Entsprechend lang wird diese Bildstrecke; ich konnte mich nicht bremsen.
Zu Beginn unseres vierwöchigen Grönland-Aufenthalts haben wir zusammen mit einem Guide und drei weiteren Gästen eine Wanderung durch diese Welt unternommen.
Das Schmelzwasser sammelt sich zu Bächen, die sich allmählich in das Eis fräsen, mäandern, fusionieren ...
... und irgendwo in Spalten oder - wie hier - in einer Gletschermühle verschwinden:
In alten Gletschermühlen wiederum sammeln sich Sedimente, die zu hohen Sandkegeln heranwachsen können:
Über den Gräben und Schluchten, die das Schmelzwasser ins Eis schneidet, können sich trügerische Schneebrücken bilden, die im Unterschied zum Eis kein bisschen tragfähig sind. Dieses kleine Exemplar ist in der Mitte bereits eingebrochen:
Diese lange Schneebrücke dagegen erkennt man zwar von der Seite gut, aber wenn man sich ihr aus der falschen Richtung unaufmerksam nähert, kann der nächste Schritt zum letzten werden:
Hier und da versammelt sich das Wasser in Seen, die teils flüssig bleiben, teils dünne oder auch dicke, tragfähige Eisschichten ausbilden - auch das ist für Laien nur schwer zu erkennen und ein guter Grund für einen Guide:
Hier wandle ich übers Wasser:
Genau genommen handelt es sich um eine dünne Schmelzwasserschicht über einer dünnen Sedimentschicht über einer tragfähigen Eisschicht über einem Schmelzwassersee über dem "ewigen" Eis. Wie man sieht, traute ich dem Braten nicht ganz, aber das Eis hielt.
Nicht nur in den Seen und Gletschermühlen sammelt sich Flugsand; auch die poröse Eisoberfläche wird mit der Zeit ganz schön "schmutzig". Durch diesen sogenannten Kryokonit - eine Mischung aus Sand, Staub, Algen und Pollen - absorbiert das Eis hier einen größeren Anteil der Sonnenstrahlung als das ... nun ja ... schneeweiße Eis nebenan:
Die größere Absorption lässt das Eis an diesen Stellen schneller schmelzen - ein selbstverstärkender Prozess, der zu Kryokonitlöchern in allen möglichen Größen führt, von etwa einem Zentimeter Durchmesser bis hin zu Tümpeln, die sich immer tiefer ins Eis hineingraben und so regelrechte Schächte bilden, in denen sich umso mehr Kryokonit ansammeln kann:
Den Einfluss dieser dunklen Sedimente und insbesondere der in ihnen lebenden Algen auf die Eisschmelze hat in diesem Sommer eine Expedition erforscht, und zwar ganz in der Nähe der Stelle, an der wir unterwegs waren.
Zugegebenermaßen waren die Helligkeitsunterschiede zwischen den Eisflächen mit und ohne Kryokonit nicht immer so groß wie auf den letzten Bildern. Das Fotografieren von Eis und die Nachbearbeitung der Bilder sind ein Thema für sich: Das menschliche Auge und Gehirn kommt mit der blendenden Helligkeit und den teils sehr starken, teils aber auch subtilen Kontrasten viel besser zurecht als eine Digitalkamera - zumindest, wenn man keine Zeit und Lust zu einem neuen Weißabgleich vor jedem einzelnen Foto hat. Die nachträgliche Korrektur der Bilder, die im Rohzustand viel fader wirken als in der Erinnerung, führt dann oft zu übertrieben "bunten" Ergebnissen. Aber auch der Versuch, schon beim Fotografieren allzu große Kontraste durch die High-Dynamic-Range-Funktion auszugleichen, kann zu seltsamen Effekten führen wie zu dieser "Mehrfachbelichtung" unseres Guides:
(Die Holzlatten im Vordergrund sollen verhindern, dass unachtsame Wanderer in eine besonders tückische Gletschermühle stürzen. Das ist wohl letztes Jahr passiert. Glück im Unglück: Der Mann ist auf einer Zwischenebene in dem tiefen Schacht gelandet und konnte von dort unverletzt geborgen werden.)
Das harte Licht und das eingeschränkte Farbspektrum auf dem Eis und in der benachbarten Tundra lassen manche Szenen geradezu künstlich wirken. Dieser Schneehase zum Beispiel könnte gut in einem Arktis-Diorama eines Naturkundemuseums sitzen:
Wir verlassen jetzt das Inlandeis und verfolgen den Weg des Eises und des Schmelzwassers weiter. Hier kalbt der Russell-Gletscher direkt in einen kleinen See im Israndsdalen (Eisrandtal):
Aus der Nähe sieht man, dass der Kryokonit den Gletscher zum Teil fast schwarz färbt - und wie viel Sand und Geröll er hier ablagert:
Etwas weiter rechts fließt dagegen Schmelzwasser vom Gletscher ab, mitten durch die Moräne:
Die Moränen sind zum Teil hoch wie Vorgebirge und zeugen von Zeiten, als das Inlandeis hier viel mächtiger war:
Hier und da erkennt man, dass die Moränen keineswegs nur aus Sand und Geröll bestehen, sondern noch einen Gutteil Eis enthalten:
Die Sedimente bringen viele Nährstoffe mit, und so blühen unmittelbar neben dem Eis grüne Algen:
Vom Eisrand sucht sich das Wasser, wegen der starken Trübung durch die Sedimente auch als Gletschermilch bezeichnet, seinen Weg zum Meer. Hier stehen wir in Kangerlussuaq auf der Brücke über den Watson River. Ist es nun zynisch oder pädagogisch, diese Brücke nach dem armen Tropf zu benennen, der bei dem wahnwitzigen Versuch ums Leben kam, den Fluss mit dem Boot zu befahren?
Typisch für einen Schmelzwasserfluss ist der im Sommer besonders hohe Wasserstand, trotz ausbleibender Niederschläge hier in der arktischen Wüste. Drei Wochen später, im Herbst, waren wir noch einmal in Kangerlussuaq. Da war der Watson River geradezu zahm, denn bei Tageshöchsttemperaturen unter 10 °C schmolz das Inlandeis bereits viel langsamer.
Der Watson River ergießt sich in den Søndre Strømfjord, der nach 170 Kilometern in die Davisstraße zwischen Westgrönland und der Baffininsel mündet:
Szenenwechsel zu einem anderen Fjord, dem berühmten Kangia oder Eisfjord bei Ilulissat - ebenfalls an der Westküste, aber etwas weiter nördlich gelegen. Denn nicht immer schmilzt das Inlandeis, bevor es das Meer erreicht. Hier kalbt ein Gletscher direkt in den Fjord, und zwar so massiv, dass man an vielen Stellen kein flüssiges Wasser erkennt:
Die Kulisse ist so großartig, dass man stundenlang hinsehen und Tausende von Fotos machen möchte. Es gibt auch die passenden Sitzgelegenheiten - wenn es nur nicht so zugig wäre:
Die beiden Wanderer oberhalb einer eisfreien Bucht vermitteln einen gewissen Eindruck von den Dimensionen dieses UNESCO-Welterbes. Sieben Kilometer breit ist der Fjord, und 55 Kilometer lang:
Noch näher sollte man auf keinen Fall ans Wasser gehen, auch wenn es verführerisch ist. Denn wie eine Vielzahl von Warnschildern erklärt, muss man jederzeit mit Tsunamis rechnen, mit hohen Wellen, die von zerbrechenden und umstürzenden Eisbergen ausgehen:
Der Gletscher schiebt sich hier atemberaubend schnell in den Fjord: im Jahresdurchschnitt mit etwa 50 Metern pro Tag. Nach seiner Entdeckung konnte man sich dieses Phänomen nicht erklären und postulierte daher einen Kanal, der sich von der Ost- bis zur Westküste erstrecken und das Eis irgendwie vorandrücken sollte. (Dank welchen Gefälles? Man frage nicht nach Logik!) Auf dieser alten Karte ist er noch zu sehen:
Tatsächlich kalbt der Gletscher hier so schnell, weil sich das Eis aus einem fächerförmigen Einzugsgebiet speist, wie diese Karte am Flughafen von Ilulissat zeigt:
Eine weitere Besonderheit des Eisfjords: Er ist sehr tief, etwa 1200 Meter, sodass an seinem Ostende gigantische, bis zu 1000 Meter dicke Brocken vom Gletscher abbrechen können und dann langsam nach Westen treiben. Am Westende des Fjords hat sich früher, als der Gletscher bis hierher reichte, eine mächtige Moräne gebildet. Das Wasser ist darüber so flach, dass die größeren Eisberge hängenbleiben und nur die kleineren Exemplare sowie Bruchstücke, die sich von den großen Bergen lösen, ins Meer hinaustreiben können.
Vom Balkon unseres Hotel habe ich viermal denselben Bildausschnitt fotografiert, über 36 Stunden hinweg: abends - morgens - nachmittags - morgens. Wie man sieht, bewegen sich die großen Eisberge links (hinter der Laterne und dem Öltank) in diesen anderthalb Tagen kein Stück voran, während die kleineren mit der Strömung und den Gezeiten umhertreiben oder schmelzen:
Auch unter diesen "kleineren" Eisbergen sind einige so groß wie ganze Stadtviertel und so hoch wie Wolkenkratzer. Erosionskräfte haben auf ihnen Kuhlen, Kerben und Kämme geschaffen:
Im morgendlichen Sonnenlicht, das von der Seite einfällt, lassen sich kürzlich abgebrochene Fronten gut von den abgeschliffenen und angeschmolzenen Teilen unterscheiden:
Die Formenvielfalt ist unerschöpflich; manche "Aufbauten" scheinen die Schwerkraft zu verhöhnen:
Hier treffen wir einen alten Bekannten vom Inlandeis wieder, eine Gletschermühle. Durch dieses gigantische Loch müssen Unmengen Schmelzwasser getost sein:
Die Fähre Sarfaq Ittuk, mit der wir unterwegs waren, hat einen verstärkten Rumpf und kann es daher wagen, durch den Eisberg-Gürtel bei Ilulissat zu fahren. Manchmal rumst es eben ein wenig ... Aus der Nähe erkennt man, dass der größte Teil der Eisberge tatsächlich unter der Wasseroberfläche liegt:
Ab und zu strandet ein kleiner Eisberg an der Küste von Ilulissat. Dann rücken die örtlichen Connaisseure mit ihren Schraubendreher-Eispickeln an und füllen große Plastiktüten mit dem Jahrtausende alten Eis, um ihre Drinks damit zuzubereiten:
Eisberge erscheinen weiß statt durchsichtig, da in ihnen lauter winzige Luftblasen eingeschlossen sind - und so knistert es gemütlich im Glas, wenn solche "Eiswürfel" schmelzen:
Luftbläschen waren es wohl auch, die im allerersten Bild die "Fingerabdrücke" bildeten. Sie entstehen, wenn der Schnee auf dem Inlandeis vom Neuschnee niedergedrückt und versiegelt wird, sodass er sich zu Eis verdichtet. Die Luft aus den Schneeflocken kann dann nicht mehr entweichen aus dem "Schnee von gestern".
Vom Kleinen zum Großen und wieder zurück ins Detail: Damit endet unsere Eis-Reisebegleitung. Dabei gäbe es noch viel zu berichten aus Grönland, einem wunderschönen Land mit sehr freundlichen Bewohnern, deren Leben sich sehr verändern wird, wenn das Inlandeis so rasant weiterschrumpft wie in den letzten Jahren.